Wallander 09 - Der Feind im Schatten
Details die Übersicht zu behalten, um von Enkes zunehmend verbitterte Randbemerkungen besser zu verstehen.
Manchmal hatte Wallander das Gefühl, von Enke versuche, dem Geschehen einen anderen Verlauf einzuschreiben. Von Enke sitzt da und schreibt die Geschichte um, dachte er. Er gleicht dem Irren in der Anstalt, der vierzig Jahre lang klassische Werke las und dann die Schlüsse umschrieb, weil er sie zu tragisch fand. Von Enke schreibt, was seiner Ansicht nach hätte geschehen sollen. Und stellt dadurch die Frage, warum es nicht geschehen ist.
Vertieft in seine Lektüre, hatte Wallander sich das Hemd ausgezogen und saß halb nackt auf dem Sofa. Er begann sich zu fragen, ob von Enke paranoid war. Aber er verwarf den Gedanken schnell. Die Notizen am Rand und zwischen den Zeilen waren bissig, dabei aber klar und logisch, zumindest soweit Wallander sie verstand.
Mitten im Text standen plötzlich ein paar einfache Worte, fast wie ein Haiku.
Geschehen unter der Oberfläche
Niemand merkt
was vor sich geht.
Geschehen unter der Oberfläche
Das U-Boot schleicht
Niemand will, dass es gezwungen wird, aufzutauchen.
War es so?, dachte Wallander. Dass alles ein Spiel für die Galerie war? Dass es nie wirklich darum ging, das U-Boot zu identifizieren? Aber für Håkan von Enke gab es eine andere, wichtigere Frage. Er betrieb eine andere Jagd, nicht nach einem U-Boot, sondern nach einem Menschen. Wie beharrlich wiederholte Trommelwirbel kehrte dies in seinen Aufzeichnungen wieder. Wer fasst die Beschlüsse? Wer ändert sie? Wer?
An einer Stelle kommentiert Håkan von Enke: Um herauszufinden, wer diese Beschlüsse eigentlich gefasst hat, muss ich die Frage beantworten, warum. Wenn sie nicht bereits beantwortet ist. Als er dies schreibt, ist er nicht wütend, nicht aufgebracht, sondern ganz ruhig. Hier hat das Papier keine Löcher.
Wallander fiel es inzwischen nicht mehr schwer, Håkan von Enkes Sicht der Dinge zu verstehen. Es waren Befehle ergangen, die Befehlskette war eingehalten worden. Aber plötzlich tritt jemand auf den Plan und verändert sie, hebt einen Beschluss auf, und auf einmal sind die U-Boote verschwunden. Er nennt keine Namen, auf jeden Fall keine, die Verdachtspersonen bloßstellen. Aber manchmal nennt er Personen X oder Y oder Z. Er versteckt sie, dachte Wallander. Und dann versteckt er die Aufzeichnungen zwischen Signes Babar-Büchern. Und verschwindet. Und jetzt ist Louise auch verschwunden.
Die Kopien des Kriegstagebuchs zu durchforsten dauerte den größten Teil der Nacht. Aber Wallander schenkte auch dem übrigen Material zwischen den Umschlagdeckeln intensive Aufmerksamkeit. Es enthielt die Lebensgeschichte Håkan von Enkes, angefangen bei dem Tag, an dem er sich entschloss, die Offizierslaufbahn einzuschlagen. Fotos, Souvenirs, Postkarten. Schulzeugnisse, militärische Examen, Ernennungen. Das Hochzeitsfoto von ihm und Louise und Bilder von Hans in verschiedenen Altersstufen. Als Wallander am Ende am Fenster stand und in die Sommernacht und den Nieselregen hinausblickte, dachte er: Ich weiß mehr. Aber ich kann nicht sagen, dass irgendetwas klarer geworden ist. Vor allem das Wichtigste nicht, warum Håkan seit mehreren Monaten fort ist und warum auch noch Louise verschwunden ist. Auf diese Fragen finde ich keine Antwort. Aber ich weiß mehr darüber, wer Håkan von Enke ist.
Mit solchen Gedanken legte er sich schließlich unter die Wolldecke und schlief ein.
Am nächsten Tag erwachte er mit einem schweren Kopf. Es war acht Uhr, sein Mund war trocken, als hätte er am Abend gesumpft. Aber als er die Augen aufschlug, wusste er sofort, was er tun würde. Er wählte die Telefonnummer, noch bevor er Kaffee getrunken hatte.
Nach dem zweiten Klingeln meldete sich Sten Nordlander.
»Ich bin wieder in Stockholm«, sagte Wallander. »Ich muss Sie treffen.«
»Ich wollte gerade mit meinem kleinen Holzboot hinausfahren. Hätten Sie zehn Minuten später angerufen, wäre ich schon weg gewesen. Kommen Sie doch mit auf eine Bootstour. Da können wir uns unterhalten.«
»Ich habe keine geeignete Kleidung dabei.«
»Die habe ich. Wo sind Sie?«
»In der Grevgata.«
»Dann hole ich Sie in einer halben Stunde ab.«
Sten Nordlander kam in einem abgetragenen grauen Overall mit dem Emblem der schwedischen Marine. Auf dem Rücksitz seines Autos stand ein großer Korb mit Essen und Thermoskannen. Sie verließen die Stadt und fuhren auf kleinen Straßen bis zu der Marina, wo Sten Nordlanders
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