Wallander 09 - Der Feind im Schatten
Verschwinden des Ehepaars von Enke war von Bedeutung für das Leben anderer Menschen, Menschen, die ihm nahestanden. Nur deshalb war er jetzt hier.
Nach einer guten Stunde ließ der heftige Regen nach, einer der schwersten, die in diesem Sommer die Hauptstadt heimsuchten. Keller wurden überflutet, Ampeln fielen aus, weil es zu Kurzschlüssen in den Stromleitungen kam. Aber davon merkte er nichts. Er war gefangen von dem Ordner, den Håkan von Enke im Zimmer seiner Tochter versteckt hatte. Es war ein krauses Durcheinander. Neben kurzen Haikus fanden sich fotokopierte Auszüge aus dem Tagebuch des schwedischen Oberbefehlshabers vom Herbst 1982, mehr oder weniger klare Aphorismen, die Håkan von Enke selbstformuliert hatte, Zeitungsausschnitte, Fotos, ein paar hingeworfene Aquarelle. Wallander wendete ein Blatt nach dem anderen in diesem merkwürdigen Tagebuch, wenn man es denn als solches bezeichnen konnte, und fühlte immer stärker, dass er dies von Håkan von Enkes Händen am allerwenigsten erwartet hätte. Zuerst blätterte er den Ordner nur durch, um eine Übersicht zu bekommen. Dann fing er wieder von vorn an, diesmal gründlicher. Als er schließlich die Deckel zusammenklappte und den Rücken streckte, dachte er, dass im Grunde nichts klarer geworden war.
Er ging hinaus und aß zu Abend. Der kräftige Regen war abgezogen. Um neun Uhr kehrte er in die leere Wohnung zurück. Zum dritten Mal zog er den Ordner mit den schwarzen Einbanddeckeln heran und ging den Inhalt durch.
Er suchte nach dem anderen Inhalt. Der unsichtbaren Schrift zwischen den Zeilen.
Die es geben musste. Dessen war er sicher.
13
Kurz vor drei Uhr am Morgen stand Wallander von der Couch auf und stellte sich ans Fenster. Es hatte wieder zu regnen begonnen, ein schwacher Nieselregen fiel auf die nassen Straßen. Wieder kehrte er in seinem müden Kopf zu dem Fest in Djursholm zurück, auf dem Håkan von Enke ihm von den U-Booten erzählt hatte. Wallander war sich sicher, dass der Ordner schon damals hinter Signes Babar-Büchern versteckt gewesen war. Das war Håkans geheimer Raum, sicherer als ein Safe. Wallanders Gewissheit in diesem Punkt beruhte ganz einfach auf der Tatsache, dass von Enke einen Teil der Dokumente datiert hatte. Die letzte Zeitangabe stammte vom Tag vor seinem fünfundsiebzigsten Geburtstag. Er hatte seine Tochter mindestens noch ein weiteres Mal besucht, und zwar am Tag bevor er verschwand, aber da hatte er nichts geschrieben.
Weiter komme ich nicht , hatte er als Letztes geschrieben. Aber ich bin weit genug gekommen . Das waren seine abschließenden Worte. Bis auf ein Wort, das offensichtlich später hinzugefügt worden war, mit einem anderen Stift. Sumpf . Nur das. Ein einziges Wort.
Wahrscheinlich das letzte von seiner Hand, dachte Wallander. Er war natürlich nicht ganz sicher und hatte im Augenblick auch nicht das Gefühl, es sei wichtig. Anderes, was zwischen den Deckeln gelegen hatte, sagte so viel mehr über den Mann aus, der den Stift geführt hatte.
Vor allem waren dies die Kopien der Tagebücher von Lennart Ljung, dem Oberbefehlshaber. Es war eigentlich nicht der Text, der wichtig war, sondern es waren die Kommentare,die Håkan von Enke an den Rand geschrieben hatte. Oft in Rot, manchmal durchgestrichen oder korrigiert, mit Ergänzungen und, hier und da, Jahre nach der ersten Randnotiz, ganz neuen Gedankengängen. Zuweilen hatte er auch Strichmännchen zwischen die Zeilen gezeichnet, Teufel mit Äxten oder Schürhaken in den Händen. An einer Stelle hatte er eine verkleinerte Seekarte der Hårsbucht eingeklebt. Darauf waren rote Punkte eingezeichnet, verschiedene Fahrwege für unbekannte Schiffe skizziert, und er hatte anschließend alles wütend ausgestrichen, um wieder von vorn anzufangen. Er hatte auch die Anzahl der abgeworfenen Wasserbomben notiert, verschiedene Minenpfade unter Wasser, Sonarkontakte. Manchmal zerfloss vor Wallanders müden Augen alles zu einem undeutbaren Brei. Dann ging er in die Küche und wusch sich das Gesicht. Und machte weiter.
Oft hatte von Enke den Stift so fest aufs Papier gedrückt, dass Löcher entstanden waren. Die Aufzeichnungen verrieten ein ganz anderes Temperament, fast eine Besessenheit, die vielleicht an Wahnsinn grenzte. Nichts von der Ruhe, mit der er in jenem fensterlosen Raum seinen Monolog gehalten hatte.
Wallander blieb am Fenster stehen und lauschte einigen jungen Männern, die heimwärts torkelten und Obszönitäten in die Nacht posaunten. Das sind
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