Wallander 09 - Der Feind im Schatten
fuhr und Jussi abholte. Wild vor Freude sprang der Hund an ihm hoch und hinterließ lehmige Pfotenabdrücke auf Wallanders Kleidung. Nachdem er gegessen und ein paar Stunden geschlafen hatte, setzte er sich mit dem Ordner an den Küchentisch. Er hatte sein stärkstes Vergrößerungsglas herausgeholt, ein Geschenk seines Vaters in den ersten Teenagerjahren, als er Interesse für im Gras kriechende Insekten an den Tag gelegt hatte. Es war eins der wenigen Geschenke außer dem Hund Saga, die er wie seinen Augapfel gehütet hatte. Jetzt widmete er sich den Fotos, die sich zwischen den schwarzen Deckeln befanden, und ließ Texte und Randnotizen unbeachtet.
Eins der Fotos schien nicht richtig zu den anderen zu passen. Es war ihm schon vorher aufgefallen, dass dem Bild etwas allzu Ziviles anhaftete. Er war sicher, dass nichts zufällig hier hineingeraten war. Håkan von Enke war ein vorsichtiger, aber äußerst zielbewusster Jäger.
Es war ein Schwarzweißfoto, aufgenommen an einer Art Hafenanlage. Im Hintergrund sah man ein Haus ohne Fenster, wahrscheinlich ein Lager. An der unscharfen Außenkantedes Fotos vermochte Wallander mithilfe des Vergrößerungsglases zwei LKWs und gestapelte Fischkisten auszumachen. Der Fotograf hatte die Kamera auf zwei Männer gerichtet, die neben einem Fischerboot standen, einem älteren Typ von Trawler. Der eine Mann war alt, der andere sehr jung, fast noch ein Kind. Wallander vermutete, dass das Bild in den sechziger Jahren aufgenommen worden war. Es war die Zeit, als noch Wolle und Lederjacken, Südwester und Ölzeug angesagt waren. Das Boot war weiß und hatte schwarze Schrammen an der Bordwand. Hinter und zwischen den Beinen des Mannes erkannte Wallander Buchstaben, die zur Registriernummer des Bootes gehören mussten. Dass der letzte Buchstabe ein G war, stand außer Zweifel, der erste Buchstabe war fast ganz verdeckt, während der mittlere ein R oder ein T sein konnte. Die Ziffern waren leicht zu lesen, 123. Wallander setzte sich an seinen Computer, ging ins Internet und googelte verschiedene Suchbegriffe, bis er herausfand, wo der Trawler registriert war. Er konnte rasch feststellen, dass es nur eine Möglichkeit gab. Die Buchstabenkombination war NRG. Der Trawler war an der Ostküste in der Nähe von Norrköping beheimatet. Nach weiterem Suchen fand Wallander das Seefahrtsamt und die Fischereiverwaltung. Er schrieb sich die Telefonnummern auf und kehrte an den Küchentisch zurück.
Das Telefon klingelte. Es war Linda, die wissen wollte, warum er nichts von sich hören ließ. »Du verschwindest einfach«, sagte sie. »Mir reicht es jetzt mit Entlaufenen.«
»Um mich brauchst du dir keine Sorgen zu machen«, sagte Wallander. »Ich bin vor ein paar Stunden angekommen. Ich hätte mich morgen gemeldet.«
»Nun«, sagte sie. »Ich und vor allem Hans wollen wissen, was du erreicht hast.«
»Ist er zu Hause?«
»Er arbeitet. Ich habe ihn heute Morgen gescholten, weil er nie zu Hause ist. Ich habe versucht, ihm klarzumachen,dass ich eines Tages wieder anfange zu arbeiten. Und was machen wir dann?«
»Was macht ihr dann?«
»Er muss helfen. Erzähl jetzt!«
Wallander versuchte, seine Begegnung mit Signe zu beschreiben, dem einsamen zusammengekauerten Geschöpf mit den blonden Haaren, aber er hatte noch kaum begonnen, als Klara zu weinen anfing und Linda das Gespräch beenden musste. Er versprach, sie am nächsten Tag anzurufen.
Als er am folgenden Morgen ins Präsidium kam, suchte er als Erstes Martinsson auf, um mit ihm zu klären, ob er an Mittsommer arbeiten sollte oder nicht. Martinsson hatte von allen Kollegen den besten Überblick über die ständig wechselnden Arbeitspläne und konnte ihm nach wenigen Minuten Auskunft geben. Trotz der freien Tage, die er genommen hatte, brauchte Wallander während des Mittsommerfestes nicht zu arbeiten. Martinsson selbst wollte mit seiner jüngsten Tochter in ein Yogalager nach Dänemark fahren.
»Ich weiß nicht, was ich davon halten soll«, sagte er und verhehlte seine Besorgnis nicht. »Ist es wirklich normal, dass eine Dreizehnjährige für nichts anderes Interesse hat als für Yoga?«
»Besser Yoga als so manches andere.«
»Meine beiden anderen Kinder haben sich für Pferde interessiert. Aber unser Nachkömmling ist anders.«
»Wir sind alle anders«, antwortete Wallander kryptisch und verließ das Zimmer.
Er rief eine der Nummern an, die er am Abend zuvor notiert hatte, und brachte in Erfahrung, dass der Trawler NRG 123 einem
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