Wallander 09 - Der Feind im Schatten
Kasten. Und jetzt war er zurAnwendung gekommen, als Wallander überlegte, wo er den schwarzen Ordner aus Signes Zimmer verstecken konnte. Irgendwie war es ihr Buch, dachte er, es war Signes Buch, das vielleicht eine Erklärung für das Verschwinden ihrer Eltern enthielt.
Der freie Raum unter den Brettern, auf denen Jussi schlief, war ihm als das geeignetste Versteck für den Kasten erschienen. Er war erleichtert, dass die Aufzeichnungen noch da waren. Er beschloss, Jussi sogleich zu holen. Der Nachbarhof lag jenseits einiger ausgedehnter Rapsfelder, die in seiner Abwesenheit abgeerntet worden waren. Er ging auf einem Feldweg an den Gräben entlang, redete mit dem Nachbarn, der gerade seinen Traktor reparierte, und holte Jussi, der auf der Rückseite des Hauses angekettet war und an ihm hochsprang. Als Wallander zu seinem Haus zurückkehrte, schleppte er den Zylinder hinein, breitete Zeitungen auf dem Küchentisch aus und begann, ihn zu untersuchen. Er ging vorsichtig zu Werke, weil tief in seinem Inneren eine Alarmglocke leise bimmelte. Vielleicht steckte etwas Gefährliches in diesem länglichen Gegenstand. Behutsam fummelte er die Verbindungsrelais heraus, dünne Kabelspulen und verschiedene Stecker und Kontakte, die die Leitungen verbanden. An der Unterseite sah er, dass eine Befestigungsvorrichtung abgerissen worden war. Es gab keine Seriennummer oder einen anderen Hinweis auf den Herstellungsort des Zylinders oder auf seinen Besitzer. Wallander unterbrach die Demontage, um Essen zu machen, ein Omelett, in das er eine Dose Pilze rührte. Er aß vor dem Fernseher, in dem er uninteressiert ein Fußballspiel verfolgte, während er möglichst wenig an Zylinder oder verschwundene Menschen zu denken versuchte. Jussi legte sich vor seine Füße. Wallander ließ ihn die Reste des Omeletts aufschlecken, sah zerstreut zu, als eine der Mannschaften ein Tor schoss, wer immer da auch spielte, und ging mit Jussi nach draußen. Es war ein schöner Sommerabend. Er konntenicht anders, als sich auf einen der weißen Gartenstühle an der Westseite des Hauses zu setzen, wo er einen freien Blick auf die Abendsonne hatte.
Er erwachte mit einem Ruck, verwundert darüber, dass er eingeschlafen war. Fast eine Stunde lang war er der Welt entrückt gewesen. Sein Mund war trocken, und er ging ins Haus und maß seine Blutzuckerwerte. Sie waren viel zu hoch, 15,2. Angst befiel ihn. Er hielt sich an alle Vorschriften, aß, wie er sollte, machte seine Spaziergänge, nahm seine Medikamente und seine Spritzen. Dennoch war der Wert viel zu hoch. Er kam auf keine andere Lösung, als dass er mehr Medizin brauchte. Wieder einmal musste er die Insulindosis erhöhen, die er in bestimmten Abständen seinem Körper zuführte.
Einen kurzen Augenblick blieb er an der Ecke des Tischs sitzen, wo er sich in den Finger gestochen hatte, um seinen Zuckerwert zu kontrollieren. Der Missmut, die Resignation, der Fluch des Alterns kamen erneut über ihn. Nicht zuletzt die Angst wegen seiner Erinnerungsverluste und seines Präsenzgefühls, das zuweilen völlig aussetzte. Ich schraube und fummle an einem Stahlzylinder herum, dachte er, während ich eigentlich bei meiner Tochter und meinem Enkelkind sein sollte.
Er tat, was er meistens tat, wenn der Missmut zuschlug. Er goss sich ein ordentliches Glas Schnaps ein und kippte es hinunter. Ein großer Schnaps, nicht mehr, nicht zwei, kein Nachfüllen. Dann ging er den Zylinder noch einmal durch, bevor er beschloss, dass es genug war, ließ sich ein Bad einlaufen und schlief vor Mitternacht ein.
Früh am nächsten Morgen rief er Sten Nordlander an.
Er war mit seinem Boot auf dem Wasser, aber binnen einer Stunde würde er an Land sein und dann zurückrufen.
»Ist etwas passiert?«, rief er durch das Rauschen hindurch.
»Ja«, rief Wallander zurück. »Wir haben die Verschwundenen nicht gefunden. Dagegen habe ich etwas anderes gefunden.«
Um halb acht meldete sich Martinsson und erinnerte an eine Besprechung, die am selben Vormittag stattfinden sollte. Eine der schwedischen Rockerbanden war im Begriff, in der Nähe von Ystad ein Haus zu kaufen. Lennart Mattson hatte die Sitzung einberufen. Wallander versprach, um zehn Uhr zur Stelle zu sein.
Wallander hatte nicht die Absicht, Sten Nordlander zu erzählen, wo genau er den Zylinder gefunden hatte. Nach dem unerwünschten Besuch in seinem Haus hatte er sich vorgenommen, niemandem mehr zu vertrauen, jedenfalls nicht vorbehaltlos. Natürlich konnte die Person, die
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