Wallander 09 - Der Feind im Schatten
Kurs auf den Sund zwischen Bokö und Björkskär. Sie fuhren an einer kleinen Insel vorbei, auf der in einem Wäldchen ein einsames Haus stand.
»Eine alte Jagdhütte«, sagte Lundberg. »Sie übernachteten dort, wenn sie Seevögel jagten. Aber mein Alter fuhr auch manchmal dahin, wenn er ein paar Tage saufen und in Ruhe gelassen werden wollte. Es ist ein gutes Versteck für jemanden, der für eine Weile abtauchen will.«
Sie legten am Kai an. Wallander fuhr den Wagen rückwärts heran. Gemeinsam hoben sie den Stahlzylinder auf die Rückbank.
»Eine Sache frage ich mich«, sagte Lundberg. »Sie sagten, dass beide verschwunden wären. Habe ich richtig verstanden, dass das nicht gleichzeitig geschah?«
»Sie haben richtig verstanden. Håkan von Enke verschwand im April, seine Frau erst vor ein paar Wochen.«
»Ist das nicht seltsam? Dass es nicht die geringste Spur gibt? Wo kann er jetzt sein? Oder sie beide?«
»Alle Möglichkeiten sind noch offen. Sie können am Leben sein oder tot. Wir wissen es nicht.«
Eskil Lundberg schüttelte den Kopf. Wallander fand, dass er etwas Scheues an sich hatte. Aber vielleicht wurden Menschen so, wenn sie auf Inseln lebten, die in harten Eiswintern von jeder Verbindung abgeschnitten sein konnten.
»Die Frage nach dem Foto ist auch noch offen«, sagte Wallander.
»Ich habe keine Antwort.«
Vielleicht war es, weil Lundbergs Worte zu schnell kamen? Wallander war nicht sicher. Aber er fragte sich plötzlich, ob Lundberg wirklich die Wahrheit sagte. Gab es doch noch etwas, was er nicht erzählen wollte?
»Sie kommen vielleicht noch drauf«, sagte Wallander. »Man kann nie wissen. Es können plötzlich Erinnerungen auftauchen.«
Wallander sah ihn rückwärts vom Kai ablegen, sie hoben die Hände noch einmal zum Gruß, und dann verschwand das kleine, schnelle Boot hinunter zum Sund bei Halsö.
Auf der Heimfahrt wählte Wallander einen anderen Weg als den, auf dem er heraufgekommen war. Er wollte nicht noch einmal an dem kleinen Rasthaus vorbeifahren.
Als er zu Hause ankam, war er müde und hungrig und ließ Jussi noch beim Nachbarn. In der Ferne hörte er Donnergrollen. Es hatte geregnet, das Gras unter seinen Füßen duftete.
Er blieb im Flur stehen, hielt den Atem an, horchte. Es war niemand da, nichts war verändert, dennoch wusste er, dass jemand während seiner Abwesenheit im Haus gewesen war. Auf Strümpfen ging er in die Küche. Kein Zettel auf dem Tisch. Wäre es Linda gewesen, hätte sie eine Nachricht hinterlassen. Er ging ins Wohnzimmer und bewegte sich langsam im Kreis.
Er hatte Besuch gehabt. Jemand war gekommen, und jemand war gegangen.
Wallander zog sich die Stiefel an und ging hinaus auf den Hof. Er ging ums Haus herum und wieder zurück.
Als er sicher war, dass niemand ihn beobachtete, ging er zum Hundezwinger und hockte sich vor Jussis Hütte.
Er fühlte mit der Hand nach. Was er dorthin gelegt hatte, lag noch da.
16
Den Blechkasten hatte er von seinem Vater geerbt. Genauer gesagt hatte er ihn zwischen verworfenen Gemälden, Farbdosen und Malerpinseln gefunden. Als Wallander nach dem Tod des Vaters im Atelier Ordnung geschaffen hatte, waren ihm die Tränen gekommen. Auf einem der ältesten Pinsel hatte er lesen können, dass dieser während des Weltkriegs 1942 hergestellt worden war. Das war das Leben seines Vaters gewesen, dachte er: eine immer weiter wachsende Anzahl von fortgeworfenen Pinseln, die sich in der Ecke anhäuften. Als er sauber gemacht und alles in große Papiersäcke geworfen und schließlich die Geduld verloren und angerufen und einen Container bestellt hatte, da hatte er den Blechkasten gefunden. Er war leer und rostig gewesen, doch Wallander konnte sich aus seiner Kindheit vage an ihn erinnern. Die Spielsachen seines Vaters aus fernen Zeiten hatten darin gelegen, gut gemachte und schön angemalte Zinnsoldaten, ein Gusslöffel und Gipsformen, auch Teile eines Stabilbaukastens.
Wohin die Spielsachen geraten waren, wusste er nicht. Er hatte jeden Winkel des Hauses und des Ateliers durchsucht, ohne sie zu finden. Er war sogar zu dem alten Müllhaufen hinterm Haus gegangen, hatte mit dem Spaten und einer Forke gegraben, doch ohne Ergebnis. Der Blechkasten war leer, und Wallander betrachtete ihn als ein Symbol, ein Erbe, das er selbst mit Inhalt füllen konnte. Er reinigte den Kasten, schliff den schlimmsten Rost ab und stellte ihn in den Keller in der Mariagata. Als er in das neu gekaufte Haus einzog, erinnerte er sich an den
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