Wallander 10 - Wallanders erster Fall
hatte schöne Muster an den Wänden im Treppenhaus. An Frau Gunnérs Wohnungstür hing ein großes Schild, auf dem sie sich jede Form von Werbung verbat. Wallander klingelte. Die Frau, die ihm öffnete, war äußerlich der absolute Gegensatz zu Tyra Olofsson. Sie war groß, hatte einen scharfen Blick und eine feste Stimme. Sie bat ihn in ihre Wohnung, die mit allen möglichen Gegenständen aus fremden Erdteilen gefüllt war. Im Wohnzimmer gab es sogar eine Galionsfigur. Wallander betrachtete sie lange.
»Sie gehörte zu dem Kutter ›Felicia‹, der in der Irischen See gekentert und gesunken ist«, sagte Linnea Gunnér. »Ich habe sie einmal billig in Middelsborough gekauft.«
»Sie sind also auf See gewesen?« fragte Wallander.
»Mein Leben lang. Erst als Köchin, dann als Stewardeß.«
Sie sprach nicht Schonisch. Wallander fand, daß sie eher nach Småland klang, oder vielleicht nach Östergötland.
»Woher kommen Sie?« fragte er.
»Aus Skänninge in Östergötland. So weit vom Meer entfernt wie nur möglich.«
»Und jetzt leben Sie in Ystad?«
»Ich habe diese Wohnung von einer Schwester meiner Mutter übernommen. Und ich kann das Meer sehen.«
Sie hatte Kaffee gekocht. Wallander dachte, daß sein Magen den sicher am allerwenigsten gebrauchen konnte. Aber er trank ihn dennoch. Er hatte sofort Vertrauen zu Linnea Gunnér gefaßt. In Svedbergs Papieren hatte er gelesen, daß sie sechsundsechzig Jahre alt war. Aber sie wirkte viel jünger.
»Mein Kollege Svedberg war hier«, begann Wallander.
Sie brach in Lachen aus. »Ich habe noch nie jemanden gesehen, der sich soviel an der Stirn gekratzt hat.«
Wallander nickte. »Wir haben alle unsere Eigenheiten. Ich zum Beispiel ahne immer, daß es mehr Fragen zu stellen gibt, als man vielleicht zuerst glaubt.«
»Ich habe ihm nur gesagt, welchen Eindruck ich von Anna hatte.«
|341| »Und von Emilia?«
»Sie waren verschieden. Anna redete kurz und abgehackt, Emilia war eher schweigsam. Aber sie waren beide gleich unsympathisch. Gleich verschlossen.«
»Was für ein Verhältnis hatten Sie zu ihnen?«
»Ich hatte kein Verhältnis zu ihnen. Manchmal trafen wir uns auf der Straße. Dann grüßten wir uns. Aber nie ein unnötiges Wort. Da ich gerne sticke, habe ich ziemlich oft bei ihnen eingekauft. Ich bekam immer, was ich wollte. Wenn sie etwas bestellen mußten, ging es schnell. Aber sympathisch waren sie nicht.«
»Manchmal braucht man Zeit«, sagte Wallander. »Zeit, um Erinnerungen aufsteigen zu lassen an Dinge, die man meinte, vergessen zu haben.«
»Woran denken Sie?«
»Ich weiß es nicht. Sie wissen es. Ein unerwartetes Ereignis. Etwas, was gegen ihre Gewohnheiten verstieß.«
Sie dachte nach. Wallander betrachtete einen schönen, messinggefaßten Kompaß, der auf einem Sekretär stand.
»Mein Erinnerungsvermögen war noch nie gut«, sagte sie schließlich. »Aber jetzt, wo Sie es sagen, erinnere ich mich tatsächlich an etwas, das im letzten Jahr passiert ist. Ich glaube, es war im Frühling. Aber ob es wichtig ist, kann ich nicht sagen.«
»Alles kann bedeutungsvoll sein«, sagte Wallander.
»Es war an einem Nachmittag. Ich brauchte Garn. Blaues Garn, das weiß ich noch. Ich ging ins Geschäft hinunter. Zu dem Zeitpunkt waren Emilia und Anna beide hinter dem Tresen. Als ich die Garnrolle bezahlen wollte, kam ein Mann herein. Ich weiß noch, daß er zusammenzuckte. Als hätte er nicht erwartet, daß jemand im Laden wäre. Und Anna wurde böse. Sie warf Emilia einen Blick zu, der hätte töten können. Dann ging dieser Mann wieder. Er hatte eine Tasche in der Hand. Ich bezahlte das Garn. Und dann ging ich.«
»Können Sie ihn beschreiben?«
»Er sah nicht gerade schwedisch aus. Dunkler, ziemlich klein. Schwarzer Schnauzbart.«
»Wie war er gekleidet?«
»Anzug. Ich glaube, es war eine gute Qualität.«
|342| »Und die Tasche?«
»Eine gewöhnliche schwarze Aktentasche.«
»Nichts weiter?«
Sie dachte noch einmal nach.
»Ich kann mich nicht erinnern.«
»Sie haben ihn nur dieses eine Mal gesehen?«
»Ja.«
Wallander wußte, daß es stimmte, was sie sagte. Was es bedeutete, konnte er noch nicht sagen. Aber es bestärkte ihn in der Auffassung, daß die beiden Schwestern ein Doppelleben geführt hatten. Langsam drang er unter die Oberfläche.
Wallander bedankte sich für den Kaffee.
»Was ist eigentlich passiert?« fragte sie, als sie im Flur standen. »Ich bin von einem Brand aufgewacht. Der Schein der Flammen war so stark, daß ich
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