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Walled Orchard 01: Der Ziegenchor

Walled Orchard 01: Der Ziegenchor

Titel: Walled Orchard 01: Der Ziegenchor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Holt
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Trinksprüchen und Trankopfern wurden wie die Schilde von Fußsoldaten fallengelassen, wenn die Reiter von hinten angreifen. Ich habe oft gehört, wie Atlantis vom Meer verschlungen wurde, aber bis zu jener Nacht konnte ich mir nie ein richtiges Bild davon machen.
    Zeitweilig stand es zwar auf des Messers Schneide, aber letztendlich hielt ich bis zum letzten Tropfen durch. Etwa eine Stunde vor Morgengrauen waren die einzigen, die noch sprechen konnten, Kallikrates, Philodemos, Euripides, Kleonymos und ich, und wir unterhielten uns über die Seele. Wir waren zu dem Schluß gelangt, daß sie unmöglich in der Leber wohnen könne, wo sie nach allgemeiner Auffassung angesiedelt ist, aber genausowenig in der Brust, da dort das Herz sitze und die beiden nie einer Meinung zu sein schienen. Damit blieb der Kopf übrig (was wir als albern empfanden), die Leiste oder die Füße, und ich kann mich nicht erinnern, zu welchem Schluß wir letztendlich gelangten.
    Am nächsten Morgen ließ ich die Sklaven zum Bodenschrubben und zum Beheben des Schadens zurück und ritt nach Pallene. Kleonymos begleitete mich einen Teil des Weges, und ich faßte mir ein Herz und dankte ihm für seine Unterstützung. Er stieß einen Laut aus, der sich irgendwo zwischen einem Lachen und einem abfälligen Schnaufen bewegte, und wechselte das Thema. Von allen 380
    Männern, die ich je gemocht hatte, war er, glaube ich, der abstoßendste, mit Ausnahme meines lieben Kratinos.
    Die ersten Tage in Pallene verbrachte ich damit, meine rasch zerbröckelnden neuen Terrassen zu inspizieren, um mich daran zu erinnern, daß ich nicht in allen Dingen erfolgreich war, und machte mich dann an die Arbeit. Der alte Tragiker Phrynichos, der seine besten Stücke zur Zeit von Themistokles schrieb und einst angeklagt und zu einer Geldstrafe verurteilt wurde, weil sich viele nach seinem Stück Die Plünderung von Miletos so furchtbar niedergeschlagen fühlten, pflegte zu sagen, sobald ein Bühnendichter im Theater Platz nehme, um zuzuschauen, wie sein Chor auf die Bühne geführt wird, solle er seine nächste Eröffnungsrede bereits vollständig im Kopf parat haben – ich habe stets versucht, diesem Rat zu folgen.
    Wenn ein Stück aufgeführt wird und die Schauspieler herauskommen, um die ersten Worte zu sprechen, dann weiß man, daß man das Stück das erste- und letztemal hört.
    Es ist, als zöge man einen Sohn auf, den ganzen Stolz des Vaters, um ihn bei den Spielen an einem Rennen teilnehmen zu lassen; selbst wenn er gewinnt, weiß man, daß man ihn nie wiedersehen wird. Deshalb habe ich immer ein zweites Stück im Kopf, und sobald ich den Schauspielern meinen Text aushändige, tue ich mein Bestes, um ihn vollkommen zu vergessen. Desgleichen bemühe ich mich stets, es besser zu machen, und gehe mit meinem letzten Stück um, als wäre es mein größter Konkurrent.
    Nach Lage der Dinge hatte ich Konkurrenten genug.
    Mein nächstes Stück, Der Mann mit zwei linken Händen, 381
    belegte auf einer Lenaia, zu der Aristophanes, Phrynichos und Kratinos nichts beigesteuert hatten, den zweiten Platz, gründlich geschlagen von Hermippos und nur knapp vor Ameipsias. Meine Stücke Die Weinreben und Die Städte bewahrte allein der Glanz der Kostüme vor dem schändlichen dritten Platz – ich bezahlte den Vasenmaler Phrygos für die Anfertigung aus eigener Tasche –, und auf den Dionysien schlug Aristophanes knapp meine Korinther, während Aristomenes’ Herakles von der Bühne gebuht wurde. Ich hatte mich schon mit einer Zukunft als der ewige Zweite abgefunden, als ich ganz unerwartet mit dem Stück Die Schmeichler gewann. Danach schien ich nicht mehr diesen unbändigen Drang zu verspüren, der mich dazu getrieben hatte, mich so oft wie möglich an Wettbewerben zu beteiligen. Obwohl ich stets ein Stück im Kopf hatte, stellte ich fest, daß ich mich durchaus dazu durchringen konnte, lieber eine Zeitlang damit zu warten, anstatt mich zu zwingen, es rechtzeitig zu den nächsten Festspielen fertigzustellen. Alles in allem kann ich mich nicht beklagen; ich habe siebzehn Chöre auf die Bühne geführt, sieben erste Preise gewonnen und bin nur einmal auf dem dritten Platz gelandet. Was meinen Ruf bei der Nachwelt angeht, so mache ich mir darüber längst keine Sorgen mehr. Neulich geriet mir beispielsweise eine Abschrift von Aristophanes’ Stücken in die Hände, in dem der Schreiber selbst die Ränder und die Rückseite der Rolle vollgekritzelt hatte und in die von diesem Dummkopf

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