Walled Orchard 01: Der Ziegenchor
den Ordnungshütern verhaftet oder von einem Bürger wegen Vandalismus angezeigt werden. Das allgemeine Ziel der meisten Serenadensängerbanden besteht in der Eroberung der Akropolis und dem Umsturz der Demokratie. Doch da es in der langen Geschichte der Stadt 119
noch nie eine Serenadenbande geschafft hat, viel weiter als bis zur Münzanstalt zusammenzubleiben, haben sich aus diesen Vorgängen nie bedeutende politische Veränderungen ergeben.
Die Bande von Serenadensängern, vor der ich nun mit meinem Vetter Kallikrates stand, bot einen wirklich furchterregenden Anblick. Sie setzte sich aus wenigstens vierzig jungen, mit Myrte geschmückten Männern zusammen, die Schwerter und Fackeln trugen und das Harmodioslied sangen. Die etwa zehn Mädchen in ihrer Begleitung machten einen zu Tode erschrockenen Eindruck, und darunter bemerkte ich auch ein Mädchen, das keineswegs zu den Sklavinnen gehörte, sondern vermutlich aus einem der von der Bande heimgesuchten Häuser entführt worden war.
Am Hals dieses Mädchens hing niemand anders als Aristophanes, der ganz offensichtlich einer der Anführer dieser Bande war. Er brüllte aus Leibeskräften – ich glaube, er schrie Befehle, wie ein Taxiarchos –, und seine Kumpane antworteten mit lautem Jubel, der gelegentlich zu Erbrechen ausartete. Kallikrates und ich standen vollkommen reglos da und taten so, als wären wir Türpfosten, doch die Bande bemerkte uns trotzdem und blieb jählings stehen.
»Das Ganze halt!« rief Aristophanes. »Spartaner links voraus! Es werden keine Gefangenen gemacht!«
Kallikrates, der in jüngeren Jahren selbst in Serenaden-banden mitgemischt hatte, hütete sich davor wegzulaufen, denn in dem Fall hätte man uns bestimmt verfolgt, 120
eingeholt und zusammengeschlagen oder sogar getötet.
Nein, mein Vetter wich nicht von der Stelle und gab keinen Laut von sich, in der Hoffnung, die Bande werde einfach weitergehen. Gewöhnlich funktionierte diese Taktik, aber leider nicht immer; und das war auch bei uns der Fall.
»Seht mal, Leute«, sagte Aristophanes, »da drüben steht ein Spartaner, der keine Angst vor uns hat. Was wollen wir mit dem anstellen?«
Seine Sangesbrüder machten mehrere ausgefallene Vorschläge, und ich spürte, daß sich Kallikrates allmählich Sorgen machte. Wie Sie noch zu gegebener Zeit feststellen werden, bin ich alles andere als ein tapferer Mensch. Aber damals war ich noch zu jung, um das wirkliche Ausmaß der Gefahr zu erkennen, in der ich schwebte, und nebenbei bemerkt beflügelt nichts meine geistigen Kräfte so sehr wie die nackte Angst. Obendrein drängte mich irgendein bösartiger Gott, das arme Mädchen, das nicht zu den Sklavinnen gehörte, aus Aristophanes Umarmung zu befreien. Falls dieser Flegel nämlich später mit ihr allein gewesen wäre, egal wie lange, hätte sie keinerlei Aussichten mehr auf eine gute oder auch nur annehmbare Hochzeit gehabt. Vergessen Sie bitte nicht, daß ich zu jener Zeit in einem Alter war, in dem Frauen noch eine solche Wirkung auf einen Mann haben – heutzutage empfinde ich sie dagegen als unerträgliche Plage.
Ich holte jedenfalls tief Luft und schrie: »Bist du wirklich so betrunken, daß du nicht mal mehr den Ziegenhirten vom Hymettos, vom Gehöft des Peisistratos, wiedererkennst?«
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Damit er mein Gesicht sehen konnte, hielt ich die Fackel hoch, die ich bei mir trug. Natürlich gab es keine Garantie, daß er mich nach den vielen Jahren, ganz zu schweigen von den Entstellungen durch die Pest, überhaupt noch wiedererkennen würde. Andererseits war ich jedoch –
insbesondere bei Fackelschein – so häßlich, daß sich die beabsichtigte Wirkung vielleicht auch hervorrufen ließ, ohne daß er sich unbedingt an mich erinnern mußte. Aber Aristophanes entsann sich sofort und ließ vor Schreck beinahe die eigene Fackel fallen.
»Hast du noch die kleine Hekate?« fragte ich ihn. »Die wirst du nämlich brauchen. Kannst du dich noch an den thessalischen Zauber erinnern? Und an die Ziege, wegen der du dir den Kopf aufgeschlagen hast, und an meinen Vater, den Magier?«
Mit diesen Worten hielt ich die Fackel über Kallikrates’
Kopf, und obwohl mein Vetter nicht die leiseste Ahnung hatte, was ich damit beabsichtigte, tat er sein Bestes, wie ein echter Zauberer auszusehen und böse dreinzublicken.
Aristophanes wandte das Gesicht ab und spuckte in seinen Umhang, um das Glück heraufzubeschwören. Dadurch bekam das Mädchen seine Gelegenheit. Es biß Aristophanes in die Hand,
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