Walled Orchard 01: Der Ziegenchor
wir hören grauenhafte Schreie, während sich der Chor dem Publikum zuwendet und seine atemberaubend tiefsinnigen Kommentare wie
›Im Haus steht es nicht zum besten‹ abgibt. Danach gönnt uns der Dramatiker einen fünfminütigen metrischen Klagegesang, und schließlich ist das Stück zu Ende. In meiner Jugend fühlte ich mich durch diese Zimperlichkeit immer betrogen, und ich erinnere mich, wie ich mich eines Jahres von meinem Stuhl rutschen ließ (ich glaube, es war bei irgendeinem Agamemnon) und außen herum zu den Kulissen rannte, weil ich sehen wollte, wie dem König der Schädel gespalten wurde. In der gemalten Hintergrund-kulisse entdeckte ich einen kleinen Riß und blickte hindurch, aber alles, was ich sah, war der Schauspieler, der sich hastig Maske und Umhang herunterriß, um in das Botenkostüm zu wechseln.
Deshalb bin ich jetzt versucht, dem Brauch in der Tragödie zu folgen und meine Hochzeit hinter dem Vorhang stattfinden zu lassen. Flöten. Der Fackelzug schlängelt sich um die Orchestra herum und durch die linke Tür hindurch, die sich daraufhin schließt, im Haus steht es nicht zum besten. Was soll’s? Jeder Narr kann Tragödien 202
schreiben. Um eine Komödie zu schreiben, braucht man Mut.
An die Hochzeit selbst erinnere ich mich eigentlich kaum noch. Es war ein milder Abend, nicht zu warm, und ich hatte jene Art Kopfschmerzen, die alles andere vollkommen nebensächlich erscheinen läßt. Von Anfang an war klar, daß die ganze Geschichte in einer einzigen schrecklichen Katastrophe enden würde; wenn man bedenkt, daß ich an jenem Morgen auf dem Marktplatz feststellen mußte, daß mein Name auf der Einberufungsliste aufgeführt worden war, konnte man allerdings auch nichts anderes erwarten.
»Wohin gehen wir denn?« fragte ich den Mann, der neben mir stand.
»Zur Abwechslung mal nach Samos«, antwortete er und spuckte einen Mundvoll Kichererbsen aus. »Bist du schon mal dagewesen?«
»Nein, noch nie«, antwortete ich.
»Samos ist die Achselhöhle der Ägäis«, sagte er mit rauher Stimme. »Das Ziegenfleisch ist ganz knorpelig, und die Menschen pinkeln in die Brunnen. Die Westküste ist einigermaßen in Ordnung, wenn man nicht anfällig für Fieberkrankheiten ist, aber wahrscheinlich werden wir drüben an der Ostküste landen. In dieser Jahreszeit ist es dort natürlich schlimmer als sonst…«
»Ich heirate heute abend.«
Er warf mir einen bösen Blick zu und spuckte in die Falte seines Chitons. »Dann verschwinde!« forderte er 203
mich in rüdem Ton auf. »Ich will nichts mit dir zu tun haben, wenn du vom Pech verfolgt bist.«
Das war vermutlich der Zeitpunkt, als meine Kopfschmerzen einsetzten. Den Rest des Morgens verbrachte ich damit, meinen Brustpanzer zu reinigen, der oben in den Dachsparren Grünspan angesetzt hatte, und an meinem Helm einen neuen Federbusch anzubringen. Zwar versuchte mir der kleine Zeus zu helfen, aber sein einziger Beitrag bestand darin, seinen Fuß durch meinen Schild zu stoßen. Ich schickte ihn mit dem Schild los, um den Riß flicken zu lassen, und goß mir selbst einen großen Becher unverdünnten Wein ein, was ein Fehler war.
»Jetzt laß den Kopf nicht hängen«, ermunterte mich Kallikrates, während wir versuchten, den Federbusch in den Sockel zu zwängen. »Schließlich gibt es noch die Hochzeit, auf die du dich freuen kannst, vergiß das nicht.«
Meine Hand rutschte ab, prallte mit voller Wucht gegen den scharfen Rand des Bronzesockels und auf das weiße Pferdehaar spritzte überall Blut. »Das vergesse ich jetzt ganz bestimmt nicht mehr«, entgegnete ich unwirsch.
»Hast du irgendwo mein Schwertgehenk gesehen?«
»Ich leihe dir meins, das hat ungefähr deine Größe«, bot mir mein Vetter an. »Anscheinend geht es bei dem Einsatz auf Samos nur um das Eintreiben von Steuern. Ich habe mit einem Mann gesprochen, der an der Debatte teilgenommen hat. Ich denke, du wirst in etwa einem Monat schon zurücksein.«
Ich zuckte die Achseln und sagte niedergeschlagen:
»Ach, mir ist das völlig egal.«
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»Das Wichtigste, woran man auf Samos denken sollte«, fuhr er fort, »ist, die Würste nicht zu essen. Ein Freund von mir – du weißt doch, Porphyrion, der den Hund mit dem verkümmerten Schwanz hat –, der war vor ungefähr einem Jahr auf Samos, als es diesen Ärger gab, und der sagt, die kochen das Blut nicht ordentlich durch, bevor sie es in die Därme gießen. Ansonsten kann man es dort aushalten, allerdings werfen die Frauen andauernd mit
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