Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Walled Orchard 01: Der Ziegenchor

Walled Orchard 01: Der Ziegenchor

Titel: Walled Orchard 01: Der Ziegenchor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Holt
Vom Netzwerk:
besitzt, weil es unsterblich ist und sich durch keinen anderen Faktor beeinflussen läßt als durch den eigenen Vorteil, ist die einzige Grenze dessen, was es vollbringen kann, die natürliche Grenze dessen, was es sich erlauben kann, was es wirklich anzufangen und zu beenden in der Lage ist, ohne von anderen darin gestört oder gewaltsam daran gehindert zu werden. Das verleiht uns Athenern die Fähigkeit und das Recht, niemandem Untertan zu sein und über andere zu herrschen.
    Aber ich höre schon einige von euch murmeln, nur weil wir als einzige von allen Menschen die Mytilenen hinrichten können, heiße das noch lange nicht, daß wir das 294
    auch tun müssen. Aber das Gegenteil ist der Fall, Männer von Athen. Gerade weil wir diese einzigartige Macht haben, müssen wir sie ausüben! Wir müssen sie ohne Rücksicht ausüben, sonst wird sie uns ebenso schnell entgleiten wie ein Traum nach dem Erwachen. Wir würden uns selbst geistige Schranken auferlegen, was vernichtende Folgen hätte. Wir würden sagen: ›Wir trauen uns nicht mehr, dies oder das zu tun‹, anstatt: ›Wir können dies oder das nicht tun‹, was dasselbe ist, wie uns selbst Fesseln anzulegen, weil uns niemand anders fesseln kann.
    Nein, wenn es uns wahr erscheint, daß der beste Weg, zukünftig unser Reich zu erhalten, der ist, solch ein schreckliches Exempel zu statuieren, daß kein Mensch jemals wieder einen Aufstand wagen wird, dann haben wir wirklich keine andere Wahl, als dieses Exempel zu statuieren und der Welt zu zeigen, daß Athen vor nichts zurückschreckt, um seine Ziele durchzusetzen. Denn was andernfalls folgen würde, wißt ihr alle. Wenn wir die uns unterworfenen Staaten verlieren, dann verlieren wir unsere typische Lebensart als griechische Grundbesitzer. Momentan kann kein Mann in irgendeiner unserer Städte ohne die Zustimmung Athens sein Land umpflügen, seine Tochter zur Ehe versprechen oder Mehl auf dem Markt kaufen. Ich meine damit nicht, daß wir alle diese Dinge genehmigen oder daß jeder Mann eine in Wachs geschriebene Erlaubnis erhalten muß, bevor er irgend etwas tut; aber er weiß, daß er das Eigentum Athens ist, so wie eure Sklaven das Eigentum jedes einzelnen von euch sind.
    Angenommen, Nikias oder Kallias, Sohn des Hipponikos, die beide Hunderte von Sklaven besitzen, 295
    hätten jeweils einen ganz bestimmten Sklaven, der nicht nur entlaufen ist, sondern zusätzlich seine Mitsklaven angestiftet hat, es ihm nachzutun und obendrein ihrem Herrn die Kehle durchzuschneiden. Nikias und Kallias sind rechtschaffene, fromme Männer; aber würden sie nur einen Moment zögern, den betreffenden Sklaven auspeitschen und zu Tode foltern zu lassen? Natürlich nicht. Die beiden sind reich genug, um solch einen Verlust verkraften zu können, doch verführen sie nicht so, wäre das praktisch eine Aufforderung für die anderen Sklaven, ebenfalls zu entlaufen und ihre Herren umzubringen. Und ihr, Mitbürger von Athen, habt mehr Sklaven als alle anderen auf der Welt. Den Verlust könnt ihr verkraften, aber ihr könnt es euch nicht leisten, Landesverrat zu dulden. Wenn ihr also auf euren Staat, eure Demokratie und euer eigenes Leben Wert legt, dann stimmt für meinen Antrag. Wenn ihr darauf jedoch keinen Wert legt und bereit seid, den Spartanern und Korinthern euren wahren und einzigen Besitz zu übergeben, dann stimmt dagegen.«
    Natürlich stimmten wir alle für ihn, jubelten ihm zu, bis unsere Kehlen heiser waren, und erzählten jedem, der das Pech hatte, nicht dabeigewesen sein zu dürfen, welch ein Fest der Redekunst und des gesunden Menschenverstands er verpaßt habe. Aber wir sind Athener, und als tags darauf jemand forderte, den Beschluß noch einmal in Ruhe zu überdenken, taten wir das und hoben ihn auf. Da wir sowohl für als auch gegen den Antrag gestimmt hatten, schien die allgemeine Ansicht zu sein, daß wir es entweder beim ersten- oder beim zweitenmal richtig gemacht haben mußten, was sehr schlau von uns war.
    296
    Kleon bekam also im Fall von Mytilene nicht seinen Willen. Aber diese Abstimmungsniederlage schadete ihm ebensowenig wie alle Angriffe, denen er in fast sämtlichen Komödien ausgesetzt wurde. Die wirkliche Prüfung seiner Fähigkeiten kam erst viel später, ungefähr zu der Zeit, als ich Phaidra heiratete und nach Samos ging.
    Es fing alles damit an, daß Demosthenes, eigentlich ein hervorragender, schneidiger und außergewöhnlich erfolgreicher Feldherr, einen wichtigen und relativ einfach zu

Weitere Kostenlose Bücher