Wallentin, Jan
den Händen
gerissen hatte, bevor er den Saal mit den Computern verließ.
»Sie
müssen wissen«, fuhr Don fort, »wir haben falsch gedacht, von Anfang an.«
Dann nahm
sie endlich Augenkontakt mit ihm auf.
»Die
Postkarte ist an einen Mann geschrieben.«
Sie stand
still da, dann schüttelte sie den Kopf:
»Nein, das
kann nicht möglich sein. Der Lippenstift, der Kuss ...«
»Doch«,
entgegnete Don, »der Tote aus dem Bergwerk schrieb diese Worte an einen Mann,
den er einmal geliebt hat. Lesen Sie selbst.«
Er hielt
ihr die Kopie aus der Datenbank des Museums über die Kriegsgräber hin.
Name:
First name:
Malraux
Camille
Rank:
Sous-Lieutenant
Regiment:
Date of Death:
87 RIT
22/04/15
Als Eva
sie gelesen hatte, sagte sie zweifelnd:
»Es kann
sich dennoch um eine andere Person handeln. Bereits im Stadtarchiv gab es zwei
Frauen, die Camille Malraux hießen. Und ich denke nicht ...«
»Ich bin
mir ganz sicher, Eva.«
»Ich denke
nicht, dass das passt.«
Sie ließ
ihren Blick zurück in die Glasvitrine gleiten.
»Eva ...«
»Das Ganze
ist jedenfalls ein unglaublicher Zufall«, sagte sie langsam.
»Es kann
sich ja dessen ungeachtet um einen Liebesbrief handeln, die beiden waren
vielleicht Geliebte? Möglicherweise sah er Malraux als seine Frau an? Vielleicht
haben sie ...«
»Nein, das
nicht«, unterbrach Eva ihn. »Schauen Sie, an welchem Tag Ihre Camille Malraux
starb.«
Don warf
einen Blick auf das Datum auf dem Papier und folgte dann ihrem Blick hinunter
zur Informationstafel an der Vitrine:
The
Battle of Gravenstafel Ridge 22nd-23rd April 1915
»Dann
wurde er also vergast«, murmelte Don.
Eva
nickte. Sie atmete tief durch und schüttelte sich, wie um wieder munter zu
werden:
»Ich
verstehe dennoch nicht, wie Sie da so sicher sein können. Wie gesagt ...«
Don nahm
die Postkarte aus der Innentasche seines Jacketts und reichte sie ihr.
»Ja,
und?«, fragte sie, als sie die kurzen Zeilen noch einmal gelesen hatte.
»Sehen Sie
sich die letzte Zahl an«, forderte er sie auf.
»Ja, die
Postkarte ist 1913 geschrieben worden. Was soll damit sein?«
»Die Zahl
1913 ist keine Jahreszahl«, erklärte Don. »Es ist die Nummer des Grabs von
Camille Malraux. Er liegt auf einem Kriegsgräberfeld mit dem Namen Saint
Charles de Potyze, direkt außerhalb von Ypern.«
Saint Charles de Potyze
Unter dem
Eingangsgewölbe der Tuchhallen versuchte Don sich gegen die Windböen zu
schützen, das dünne Jackett fest um seinen gekrümmten Oberkörper gezogen. Es
war bereits Abend geworden, und über dem großen Platz hatte der stürmische
Regen inzwischen auch das restliche Tageslicht verdrängt. Es kam ihm vor, als
würde die eiskalte Feuchtigkeit jeden Moment geradewegs durch ihn
hindurchströmen.
Draußen
auf dem Grote Markt wurde der strömende Regen hin- und hergepeitscht. In den übergelaufenen
Gullys blubberte es, und in regelmäßigen Abständen wurden gelblichbraune
Kaskaden mit Zigarettenkippen und Müll über das Kopfsteinpflaster gespült. Ein
Stück entfernt auf der Rijselsestraat schienen die Läden seit langem
geschlossen zu sein. Die kleinen Boutiquen hatten ihre Markisen hochgefahren,
und alle Schaufenster waren erloschen.
Das
einzige lebende Geschöpf, das gegen seinen Willen dem Wolkenbruch trotzte, war
ein einsamer Hund. Er stand im Regen vergessen an einen Laternenpfahl gebunden.
Völlig durchnässt riss und zog er an seiner Leine in einem vergeblichen Versuch
freizukommen.
»Wir
sollten wohl dennoch hinfahren und sehen, ob Sie wirklich recht haben«, hörte
er eine Stimme hinter sich.
Eva hatte
den Kragen ihres Trenchcoats bis zum Hals hochgezogen und die Hände tief in
den Manteltaschen vergraben. Man konnte in der Dunkelheit unter dem
Eingangsgewölbe kaum das Gesicht der Rechtsanwältin erkennen.
»Zum Grab
von Malraux, meine ich«, fuhr sie fort. »Nummer 1913 auf dem Saint Charles de
Potyze, wenn Sie sich erinnern.«
Don machte
sich anfänglich nicht die Mühe zu antworten, denn er ging davon aus, dass sie
es im Scherz gesagt hatte. Doch dem war nicht so:
»Um uns zu
vergewissern, dass seine Leiche auch wirklich dort liegt.«
»Morgen
früh vielleicht«, brachte Don bibbernd hervor. Er konnte die Reaktion der
Rechtsanwältin nicht sehen, fuhr jedoch fort:
»Und wozu
soll das im Übrigen gut sein?«
»Wozu
sollte es gut sein, diesen Camille Malraux überhaupt aufzusuchen?«
Don fror
so, dass er zitterte. Es war, als hätte der heftige Regen
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