Wallentin, Jan
strömenden Regen hing. Die Augen unter der scharfen
Dornenkrone waren offen.
»Keine
Ruhe für die Toten in Flandern«, sagte der Fahrer und drehte sich zu Eva und
Don um.
Don
spürte, dass ihm das Hemd wie eine eiskalte Hand an seinem Rücken klebte.
»Es wird
die ganze Nacht so weiterregnen«, fuhr er fort. »Das haben sie zumindest im
Radio angekündigt.«
»Dann
können Sie uns vielleicht einen Regenschirm ausleihen«, bat Eva.
Sie
reichte Don die Schultertasche, so dass er bezahlen konnte. Er nahm ein paar
Scheine heraus und erklärte dem Fahrer:
»Es wird
nicht lange dauern. Wir wollen nur etwas nachgucken und sind gleich wieder
zurück.«
»Ich kann
hier nicht einfach stehen bleiben und ...«
Don gab
ihm dreißig Euro.
»Während
ich in der Stadt ...«
Der Fahrer
erhielt noch ein paar Scheine, worauf in dem leberfleckigen Gesicht eine
lückenhafte Zahnreihe sichtbar wurde und ihnen eine unangenehme Schnapsfahne
entgegenschlug:
»Sie
können im Kofferraum nachsehen, ob Sie etwas gegen den Regen finden. Vor allem
anderen kann ich keinen Schutz bieten.«
Eva warf
Don einen auffordernden Blick zu. Er schüttelte sich ein letztes Mal und öffnete
die Fahrertür.
Als er den
Kofferraum des Wagens öffnete und hineinschaute, lag dort tatsächlich ein
Regenschirm mit abgebrochenem Handgriff. Aufgespannt hatte er die Aufschrift
»Colruyt Supermarkt - laagste prijzen«, aber er war zumindest ausreichend groß.
Sie
drängten sich so dicht wie möglich unter dem Regenschirm, während sich die
Pforte quietschend öffnete. Ein mit Steinplatten ausgelegter Weg schnitt eine
Linie zwischen die Felder mit Kreuzen, die sich über dem durchnässten Gras
erhoben. Hier dürfte Platz für mehrere Tausend Gräber sein, dachte Don und ging
auf das zu, das am nächsten lag.
Ein
feinmaschiges Netz aus Schimmelpilzen hatte sich über die weiße Oberfläche des
Betonkreuzes gelegt, doch das Namensschild aus Kunststoff war noch lesbar. Unter
dem französischen Namen standen Worte, die Don auf seiner Suche entlang der
nummerierten Grabsteine bald wiedererkennen sollte:
Mort pour
la France
Nachdem
sie geduckt zwischen den Gräbern entlanggelaufen waren und auf gut Glück
vergeblich nach der Nummer 1913 gesucht hatten, fanden sie schließlich einen
Übersichtsplan des Friedhofs. Er prangte wie ein Altargemälde über einer
niedrigen steinernen Bank.
Don kramte
ein kleines Plastikfeuerzeug aus seiner Schultertasche, zündete die Flamme und
hielt es vor das Schild:
Necropole
Nationale Francaise Saint-Charles-de-Potyze
Unter der
schwarzen Schrift war der Friedhof in vier signalrot eingefasste Rechtecke
geteilt, die mit Zahlen in Miniaturgröße bedeckt waren.
Don begann
mit Hilfe der Flamme die ersten hundert Gräber von unten abzusuchen, bis er
sich immer weiter hinaufgearbeitet und schließlich alle vier Felder
abgeleuchtet hatte. Schließlich wurde das Feuerzeug so heiß, dass er es nicht
länger halten konnte und gezwungen war, die Flamme ausgehen zu lassen.
»Das Grab
von Malraux ist nicht zu finden«, sagte er in der Dunkelheit zu Eva.
»Sie
müssen es ganz einfach übersehen haben. Suchen Sie noch einmal.«
Don
seufzte. Dann zeigte er auf die vier Felder, deren rote Umrandungen jetzt nur
noch schwach erkennbar waren:
»Auf
dieser Tafel befinden sich alle Grabnummern bis 1800. Und hier drüben ...«
Er bewegte
seinen Finger:
»Hier
beginnt die nächste Zahlenreihe von Nummer 2101 bis zum letzten Grab mit der
Nummer 3567. Kein Grab mit der Nummer 1913. Irgendetwas an der Zahl aus den
Tuchhallen muss falsch sein.«
Eva nahm
ihm das inzwischen erkaltete Feuerzeug aus der Hand. Sie zündete es erneut und
begann die Flamme systematisch über die plastiküberzogene Tafel zu bewegen.
Unmittelbar unter dem schwarzen Trauerflor, der die hintere Grenze des
Friedhofs markierte, fand sie ein blaues Rechteck:
»Le
mausolee de Gravenstafel«, las sie und ließ das Licht über die Zeile gleiten.
Dann
erlosch die Flamme, und sie standen schweigend im Regen da.
Don warf
einen letzten Blick in Richtung des Taxis, als Eva seine Hand ergriff. Dann
folgte er ihr entlang des Steinwegs immer weiter in die Dunkelheit.
Sie kamen
an einer französischen Trikolore vorbei, die direkt über dem Boden in der Mitte
des Friedhofs aufgespannt war. In ihrem nach unten gewölbten Stoff hatte sich
eine Lache aus schmutzigem Regenwasser gebildet. Eva schien es jetzt eilig zu
haben und kümmerte sich nicht mehr darum, den
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