Wallentin, Jan
nur fünf Minuten vergangen
waren.
Draußen
regnete es immer noch, und entlang der mit Blei eingefassten Fensterscheiben
hatten sich Rinnsale gebildet. Im Saal roch es schwach nach Reinigungsmittel,
während ihm die Stille langsam erdrückend vorkam.
Als Don zu
der Aufseherin im Glaskäfig hinschielte, sah er, wie sie die Augenbrauen
hochzog. Dennoch hatte er vor, so lange zu bleiben, bis sie ihn buchstäblich
hinauswarf, in der Hoffnung, dass Hex in der Zwischenzeit nach Hause käme und
sich einloggte.
Um sich
die Zeit zu vertreiben, ging er ins Internet.
Auf einer
der Hauptseiten einer schwedischen Abendzeitung erblickte Don das Foto eines
Kollegen, den er schon immer verabscheut hatte. Die darunter in fetten Lettern
prangende Schlagzeile schrie ihm förmlich entgegen:
EIN FREUND BERICHTET: DIE WAHRHEIT ÜBER DEN NAZIEXPERTEN
Nachdem er
den Artikel geöffnet hatte, schaffte er es kaum, all die entstellten Zitate zu
überfliegen. Es hatte nur ein paar Tage gedauert, aber in der Zwischenzeit war
er offensichtlich vom Historiker zum Medikamentenabhängigen und so gut wie
verurteilten Gewalttäter avanciert - krankhaft besessen von
nationalsozialistischen Mythen und Symbolen. Er klickte unsanft auf die Maus,
um den Text auf dem flimmernden Bildschirm wieder zu schließen.
Dann warf
Don voller böser Vorahnungen einen Blick auf die Websites der Morgenzeitungen.
Dort war es fast noch schlimmer, und jetzt sah er ein, dass die Rechtsanwältin
recht hatte.
Die
Reichskriminalpolizei gab vor, eine großangelegte Suchaktion durchzuführen,
auch über die Grenzen Schwedens hinaus. Man behauptete, sich in einer
intensiven Phase der Ermittlungen zu befinden, und deswegen war eine
Geheimhaltung nach außen hin absolut notwendig.
»Oy! tsores«, murmelte
Don, »nicht gut.«
Don loggte
sich erneut in Hex' Server ein, doch die Schwester schien immer noch nicht wieder
in ihr Heim unter der U-Bahn zurückgekehrt zu sein. Ohne einen Blick in
Richtung der Aufseherin zu riskieren, nahm Don an, mindestens noch ein paar
Minuten bleiben zu können.
Als er so
dasaß, fielen ihm die Äußerungen im Stadtarchiv über Baudelaire ein, und um
sich die Zeit zu vertreiben gab er den Namen des Dichters und den Begriff
»l'homme vindicatif« in die Suchmaschine ein.
Bereits
der erste Link zeigte, dass das kaugummikauende Mädchen recht gehabt hatte. Er
wurde zu dem Gedicht 178 auf der Website Die Blumen des Bösen, fleursdumal.org
weitergeleitet.
Charles
Baudelaire
Une
Martyre Dessin d'un Maitre inconnu
Neben dem
Gedicht befand sich eine kurze Biographie des Autors, die Don in der Hoffnung
überflog, auf irgendeine Anregung zu stoßen, die ihn weiterbringen würde. Doch
als er dort nichts fand, wandte er sich wieder dem Gedicht zu, das ziemlich
lang zu sein schien.
Mit seinem
Französisch war es nie besonders weit hergewesen, doch soweit er es verstand,
war das, was er da las, eine Beschreibung von Nekrophilie; die Sehnsucht eines
Mannes, gewaltsamen Sex mit einer Frauenleiche zu praktizieren. Es enthielt
lauter Details, die an Pornographie grenzten.
Die Verse
auf der Postkarte fand er vom Schluss aus gerechnet in der dritten und vierten
Strophe:
L'homme
vindicatif que tu n'as pu, vivante,
Malgre
tant d'amour, assouvir,
Comblat-il
sur ta chair inerte et complaisante
L'immensite
de son desir?
Reponds,
cadavre impur! Et par tes tresses roides
Te
soulevant d'un bras fievreux,
Dis-moi,
tete effrayante, at-il sur tes dents froides
Colle
les supremes adieux?
Nachdem er
eine Weile im Internet gesucht hatte, fand er eine Übersetzung:
Hat der
rachsüchtige Mann, des nimmersatte Triebe
Du lebend
nicht gestillt,
Auf
deinen toten Leib das Übermaß der Liebe
Gehäuft
und angefüllt?
Auf deinen
toten Leib das Übermaß der Liebe gehäuft und angefüllt, dachte Don. Der Mann
im Bergwerk musste toytmeshuge, nicht ganz
richtig im Kopf gewesen sein.
Unkeuscher
Leichnam sprich!
Richt, auf
die starre Mähne
Mit fieberschwerer
Hand,
Hat er,
sprich furchtbar
Haupt, auf
deine kalten Zähne
Den
letzten Kuss gebrannt?
»Fieberschwere
Hände und kalte Zähne«, murmelte Don vor sich hin und bewegte die Finger, um
alles wegzuklicken.
Doch dann
drückte er auf Print, obwohl es sich vermutlich bloß um hoffnungslose narishkayt, also Idiotie handelte und wahrscheinlich in eine Sackgasse führte.
Ein Drucker, der ein paar Meter entfernt stand, begann rauschend hochzufahren.
Das
Geräusch ließ
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