Wallentin, Jan
er
hauptsächlich irritiert über die Trägheit des deutschen Sicherheitsdienstes und
dessen mangelnde Bereitschaft zur Zusammenarbeit. Doch hinter all diesen
Abkürzungen hatte sich schon immer eine gewisse Inkompetenz verborgen, ob sie
sich nun BfV, Bundesamt für Verfassungsschutz, LfV, BND und nicht zuletzt SS
oder Gestapo nannten.
Die einzig
professionelle Organisation, der er nach der Polizei des Kaiserreichs je
begegnet war, war das Ministerium für Staatssicherheit, die ostdeutsche
Sicherheitspolizei Stasi. Leider existierte sie schon lange nicht mehr, und es
war eine umfangreiche Arbeit gewesen, die Spuren der Stiftung aus den von ihr
hinterlassenen Archiven zu entfernen.
Wie dem
Bundesnachrichtendienst das kurze Telefonat entgehen konnte, war ihm ein
Rätsel. Mittels eines komplizierten Gesetzgebungsverfahrens besaß er
inzwischen Zugang zu derselben Femmeldeaufklärungskapazität wie die Franzosen,
doch schien er absolut unfähig, sie auszunutzen.
In einer
globalisierten Welt würde es keine Rolle spielen, in welchem Land die Masten
stünden, hatte man ihm versichert, und dennoch war er gezwungen gewesen, den
gesamten Vormittag mit den bürokratischen Mitarbeitern der Direction Generale
de la Securite Exterieure zu verhandeln, damit sie ihm von Paris aus die
nötigen Informationen übermittelten. Wie immer waren sie trotz der
Unterstützung, die die französische Rüstungsindustrie im Laufe der Jahre von
den Deutschen erhalten hatte, arrogant und überheblich.
Jetzt
lagen die Daten endlich in Form eines Satellitenbildes vor ihm, auf dem die
Koordinaten mit schwarzem Filzstift eingezeichnet waren. Rostfarbene
Ziegeldächer, eine Kathedrale, die wie ein graues Kreuz in der Nähe eines
weitläufigen Platzes lag, der Grote Markt hieß. Der Mast, über den das
Handysignal weitergeleitet wurde, war mit einer Reihe scheinbar zufällig
zusammengesetzter Buchstaben bezeichnet:
VOORUITGANGSSTRAAT
Wohin sich
ihr Handy daraufhin bewegt hatte, würde man vor Ort untersuchen müssen. Doch zu
diesem Zeitpunkt würde die Stiftung zumindest eigenverantwortlich und ohne
irgendwelche schwerfälligen Staatsbeamten an ihrer Seite agieren können.
Der Besuch
Eva lag in
der Dunkelheit des Hotelzimmers alleine auf dem Doppelbett. Die Glocken der
Tuchhallen hatten gerade Mitternacht geschlagen, und da Sonntag war, hatte auf
dem Grote Markt seit langem alles geschlossen, es herrschte Stille.
Sie hatte
mehrere Stunden in dem kleinen Cafe gesessen und sich mit belgischer Schokolade
aufgewärmt. Sich in den Erinnerungen an vergangene Zeiten und Wünsche
verloren, die sie im Leben gehabt hatte, und die nie in Erfüllung gegangen
waren.
Als es ihr
gelungen war, die Melancholie abzuschütteln, und sie ins Hotelzimmer
zurückkehrte, war es leer und Titelman fort. Das Jackett mit dem Brief und dem
Stern war ebenfalls verschwunden, und er hatte keine Nachricht hinterlassen,
wohin er gegangen war. Eva hatte an der Rezeption gefragt, doch dort zuckten
sie nur mit den Achseln, ohne ihr eine Antwort geben zu können.
Während
der ersten Stunden war sie nicht besonders beunruhigt gewesen. Hatte lediglich
gewartet und war davon ausgegangen, dass Titelman sich neue Kleider kaufte, um
die alten zu ersetzen, die vom Gestank des Friedhofs Saint Charles de Potyze
durchtränkt waren.
Als immer
mehr Zeit verging, begann sie sich jedoch zu wundern, und dann war es
unerwartet Abend geworden. Dennoch hatte sie gezögert, sich auf den Weg zu
machen und nach ihm zu suchen. Beschloss stattdessen, sich auszuruhen und zu
warten, bis es wieder hell werden würde.
Eva
schloss die Augen und versuchte das Gefühl von starker Unlust abzuschütteln. Es
hatte sie bereits im deprimierenden Kriegsmuseum in den Tüchhallen befallen
und sie danach nie wieder ganz losgelassen.
Sie wollte
endlich das schwarz-weiße Flimmern der Dokumentationsfilme von ihrer Netzhaut
vertreiben. All diese Leichen, die immer aufs Neue zerfetzt wurden. Die zwei
verstümmelten blutenden Wachsfiguren, die völlig entkräftet in der grünen
Giftgaswolke in der Vitrine lagen.
Nur wenige
Schritte von der Vitrine entfernt konnte man einen sachlichen Abriss über die
erstaunlich rasante Entwicklung der Waffentechnologie während des Ersten
Weltkriegs lesen. Darin wurden zum Beispiel Granaten mit brennendem weißen
Phosphor beschrieben, und sie erinnerte sich in schillernden Farben an die
Fähigkeit des Stoffes, durch Haut und Knochen zu dringen.
Sie
schaute an die
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