Wallentin, Jan
Die
Schallwellen vibrierten mit einer derartigen Wucht, dass sich Evas Hand
gewissermaßen wie von selbst hinunter auf das Türschloss zubewegte.
Doch kurz
bevor sie den Griff erreicht hatte, holte der Teenager dort draußen zu einem
Tritt aus, der direkt auf den Spion gerichtet war. Eva ahnte bereits den
Motorradstiefel auf sich zukommen, als der Messingzylinder geradewegs durch die
Tür des Hotelzimmers schoss.
Der Lärm
ließ Eva zusammenfahren und mit der Hand am Auge auf den Boden des Zimmerflurs
hinabsinken, während sie spürte, dass ihr etwas an den Fingern entlanglief. Sie
blinzelte in Richtung Tür und stellte erstaunt fest, dass sie immer noch sehen
konnte. Doch der Zylinder hatte eine tiefe Wunde in ihre Augenbraue geschnitten,
so dass ihr das Blut übers Gesicht floss.
Oberhalb
von Evas Kopf blickte ein grünes, schwarz geschminktes Auge durch das Loch, in
dem zuvor ein Metallzylinder gesessen hatte. Daraufhin hörte sie eine weiche
Stimme:
»Miss
Strand? Alles in Ordnung?«
Eva
schüttelte unten am Boden hockend den Kopf. Dann begann sie eilig rückwärts in
Richtung Badezimmer zu kriechen, wo sie ein Handtuch vom Halter zog, um den
Blutfluss zumindest notdürftig zu stoppen.
Ohne
richtig sehen zu können, tastete sie sich zum Telefon des Hotelzimmers vor, von
dem sie wusste, dass es auf dem Nachttisch stand. Hielt den Hörer ans Ohr, doch
es war kein Freizeichen zu hören, und erst in dem Augenblick wurde Eva klar,
wie man sie ausfindig gemacht hatte. Sie verfluchte alle Handymasten und die
fortlaufend aktualisierte moderne Technik.
Von der
Tür her war erneut ein wütender Fußtritt zu hören, doch das Schloss schien ihm
aus irgendeinem unerfindlichen Grund standzuhalten. Die helle Stimme gab so
etwas wie einen Befehl von sich, und kurz darauf ertönte ein dumpfes polterndes
Geräusch. Ein weiteres Poltern folgte, und Eva begriff, dass die Männer jetzt
versuchten die Tür einzuschlagen, indem sie sich dagegen warfen. Es würde nicht
mehr lange dauern, denn die Scharniere hatten sich bereits gelöst.
Um sich so
weit wie möglich vom Flur zu entfernen, lief sie zu den Fenstern am anderen
Ende des Zimmers, die zum Grote Markt wiesen. Zog die Gardinen zur Seite und
öffnete den oberen Hebel. In den Sprossenfenstern konnte Eva sehen, wie sich
die Holzsplitter spiegelten, und sie begriff, dass die Zimmertür binnen kurzem
nachgeben würde.
»Wir
wollen nur zurückhaben, was uns gehört, Miss Strand«, flüsterte die Stimme ganz
in ihrer Nähe.
Eva gelang
es endlich, auch den zweiten Hebel zu öffnen, woraufhin das Fenster nach innen
aufglitt. Sie atmete den Geruch von Müll ein und hörte die Ventilatoren der
Klimaanlage des Restaurants unten auf dem Platz. Überlegte, ob sie geradewegs
in die Nacht hinausschreien sollte, doch als sie einen Blick zurück in den Flur
warf, versagte ihr die Stimme. In der Mitte der Tür klaffte inzwischen ein
schultergroßes Loch, durch das ein Teenagergesicht hereinblickte.
»Miss
Strand«, rief die Frau.
Eva war
bereits mit nackten Füßen auf dem Weg hinauf in den Fensterrahmen.
»Ich
springe!«, schrie sie zurück.
Doch als
sie das Straßenpflaster fünfzehn Meter unter sich erblickte dachte sie, dass
es möglicherweise doch noch nicht an der Zeit sei.
Stattdessen
drehte sie sich auf der Fensterbank um und begann mit der linken Hand die
Ziegelfassade des Hotels abzutasten. Der Zwischenraum zwischen den Steinen war
gerade groß genug, um ihre Finger dort hineinzuzwängen. Die Zehen fanden auf
der überstehenden Blechleiste Halt, die zu den Fenstern des Nachbarzimmers
führte. Eva verlagerte den linken Fuß und spürte, wie ihre Finger ebenfalls
Halt fanden. Durch ihre dünne Bluse wehte eine nächtliche Septemberbrise.
Das
Letzte, was sie vom Hotelzimmer sah, war das große Loch, das in der Tür
klaffte. Doch sie hatte keine Zeit zu verlieren, um zu beobachten, was als
Nächstes passieren würde.
Mit den
Fingern an die Hauswand geheftet und auf Zehenspitzen balancierend, kletterte
Eva vorsichtig seitwärts voran, den Körper so dicht sie konnte an die Fassade
gepresst. Ein menschliches Kreuz, das sich hoch oben zwischen den Fenstern des
Hotels Langemarck bewegte.
Als es ihr
gelang, das Gesicht zu drehen, indem sie mit der rechten Wange über die
Ziegelfassade schabte, sah Eva, dass die Blechleiste, auf der sie balancierte,
am nächsten Fenster vorbei zu einem Fallrohr verlief, an dem sie möglicherweise
hinunterklettern konnte. Der Abstand bis dorthin
Weitere Kostenlose Bücher