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Wallentin, Jan

Wallentin, Jan

Titel: Wallentin, Jan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Strindbergs Stern
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den letzten Resten der Haut mit
einem Geräusch, das klang, als würde man einen Reißverschluss öffnen. Das
Gerippe bewegte sich unerwartet schnell aus dem Sarkophag, so dass es Don nur
mit einer reflexartigen Bewegung gelang, den Hinterkopf mit der rechten Hand
aufzufangen, um das Skelett am Hinausgleiten zu hindern.
     
    Im Licht
der Taschenlampe wirkte das Gesicht des Franzosen erstaunlich gut erhalten.
Teile seiner pergamentdünnen Wangen waren noch vorhanden, und von den
Wangenknochen verliefen intakte gelbliche Sehnen hinab zu den Kieferknochen.
    »Ist er
denn nicht verletzt?«, fragte Eva flüsternd.
    »Starb
wohl durch das Gas«, flüsterte Don zurück.
    Er signalisierte
ihr, weiterhin das Gesicht anzustrahlen, und öffnete mit seiner freien linken
Hand vorsichtig den Mund von Camille Malraux. Dort in der Mundhöhle, in der
alles Muskelgewebe seit langem zerfallen war, lag etwas Weißes, das im
Lichtstrahl glänzte.
    Don
steckte seine Finger hinein und klaubte den Gegenstand heraus. Er schien aus
Metall zu sein und schabte gegen die Zähne des Toten. Dann hielt er ihn hoch,
so dass Eva ihn sehen konnte.
    Durch eine
Schmutzschicht hindurch konnte man seine elfenbeinweiße Farbe erkennen: der
fünfstrahlige Stern von Eberleins Fotografien, den der Deutsche Seba genannt
hatte. Der zweite Teil von Nils Strindbergs Navigationsinstrument.
    »Geben Sie
ihn mir«, flüsterte Eva.
    Doch Don
behielt den Stern in seiner Hand und bat sie, die Taschenlampe noch einmal in
den offenen Sarkophag von Malraux zu richten.
    Dort lag
noch etwas anderes ... Er tastete sich am Brustkorb der Leiche entlang und
spürte, wie er etwas berührte, das zwischen knochigen Fingern gehalten wurde.
Schüttelte es aus dem Griff des Toten und streckte die Hand aus, um zu sehen,
was es war. Ein zusammengefalteter Zettel. Don hielt ihn hoch, so dass Eva ihn
ebenfalls sehen konnte.
    »Kommen
Sie jetzt her!«, ermahnte sie ihn etwas lauter. »Alles kann jeden Moment herunterfallen.«
    Don
schaute auf den weißen Stern und das Papier in seiner linken Hand. Spürte das
Gewicht des Schädels in der rechten. Vielleicht würde er sich bis zu ihr
hinrecken können.
    »Hier!«,
zischte er Eva zu.
    Viel zu
spät merkte Don, dass er sich zu weit auf die Treppe zubewegt hatte und
spürte, wie die glatte Oberfläche des Schädels ihm aus der Hand zu gleiten
begann.
    Der Nacken
von Malraux bog sich langsam nach hinten, bis sein Hinterkopf mit einem hohlen
Geräusch gegen die Betonwand unterhalb der Öffnung des Grabes schlug. Mit dem
Gesicht kopfüber schaute der Franzose mit leeren Augenhöhlen in Evas Richtung.
Doch sie war so mit dem kleinen Zettel beschäftigt, dass sie es nicht sah.
    »Es ist
eine Art Brief«, sagte sie. »Er ist ...«
    Ihr Satz
wurde von etwas unterbrochen, das wie eine zerbrechende Kette klang. Don
blickte auf die Öffnung des Grabes und sah, dass die Halswirbel das Gewicht des
Schädels nicht mehr halten konnten. Sie brachen einer nach dem anderen ab, und
als Don sich in Bewegung setzen wollte, gehorchten ihm seine Beine nicht
länger.
    Einen
Augenblick lang hing der Schädel noch an einer letzten gelblichen Sehne, doch
dann fiel der losgelöste Kopf von Camille Malraux mit einem dumpfen Platschen
hinunter in die braune Brühe.
    Die
Luftblasen aus dem Hohlraum des Schädels ließen die Wasseroberfläche für
wenige Sekunden blubbern.
     
    Das Telefon
     
    Das
mittägliche Stimmengewirr im Außenbereich des Restaurants Langemark sickerte
durch den Spalt des offenen Fensters oben in der dritten Etage. Im Hotelzimmer
stank es nach Grab, und in einem schlammverschmierten Haufen auf dem Boden
lagen Dons Anzughosen und Strümpfe. Seine Stiefel, die er in einem verzweifelten
Versuch ausgespült hatte, standen in der Wanne im Bad zum Trocknen.
    Der
nächtliche Sturm und Regen hatten sich längst gelegt, und nun fiel ein
schwaches Sonnenlicht durch den Leinenstoff der Gardinen. Doch Eva und Don
waren noch nicht erwacht. Sie lagen völlig unbeweglich Seite an Seite unter
einer Decke aus Frotteestoff.
    Das
Zimmer, in dem das Doppelbett stand, schien seit den 70er Jahren nicht mehr
renoviert worden zu sein. Auf der schäbigen Tapete mit dem apricotfarbenen
Blumenmuster befanden sich Fettflecken, und entlang der Wände verlief ein
veraltetes Wasserleitungssystem aus Kupferrohren. Neben den Fenstern des
Hotels, die zum Grote Markt wiesen, hing ein billiger Fernseher an einer
Wandvorrichtung. Über den Lautsprechern war ein brauner

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