Wallentin, Jan
...«
»1913. Ein
Jahr vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs.«
Eva lehnte
sich langsam auf ihrem Stuhl zurück und fragte mit einem schiefen Lächeln:
»Und das
hier war so bedeutsam, dass Sie es vor Eberlein und den Deutschen verheimlicht
haben? Ein Kuss und ein paar Zeilen Poesie, geschrieben an eine geliebte Frau
vor nahezu hundert Jahren?«
Don zuckte
mit den Achseln. Dann nahm er die Postkarte vom Tisch und steckte sie in seine
Schultertasche. Er bedeutete dem Kellner, die Rechnung zu bringen.
»Also was
haben Sie vor?«, fragte Eva, als sie aufstand. »Dass wir uns auf die Suche nach
dieser Camille Malraux machen sollen? Aber warum sollte sie sich noch hier in
Ypern befinden?«
»Fällt
Ihnen vielleicht ein besserer Ort ein, an dem man anfangen sollte zu suchen?«
Don nahm
das zusammengefaltete Eurobündel zur Hand und blätterte einige Scheine hervor.
»Vielleicht
gibt es jemanden hier in Ypern, der sie kannte«, fuhr er fort. »Sie selbst muss
ja schon lange tot sein. Aber es ist doch möglich, dass sie irgendwelche
Unterlagen hinterlassen hat, die erklären ...«
Er
verstummte, als er merkte, wie weit hergeholt seine Worte klangen. Er legte die
Scheine auf den Tisch.
»Camille
Malraux hatte womöglich gute Gene«, lächelte Eva und zog ihren Trenchcoat an.
»Wer weiß, ob sie nicht immer noch am Leben ist?«
Stadtarchiv
Im
übervollen Touristenbüro in den Tuchhallen bemühte sich die angestrengt
lächelnde Frau an der Rezeption anfänglich nicht einmal darum, Dons Frage zu
verstehen. Doch dann, vermutlich um dafür zu sorgen, dass sich die Schlange
weiterbewegte, schlug sie vor, im Stadtarchiv von Ypern nach eventuellen
historischen Dokumenten zu fragen. Dort befänden sich alle Registereinträge zu
Geburten und Todesfällen, Hochzeiten sowie Zu- und Wegzügen. Und das nicht nur
im Hinblick auf Einwohner der Stadt Ypern, sondern aus ganz Westhoek, der
Provinz Westflandern.
Das
Stadtarchiv bildete für die meisten Menschen den Ausgangspunkt in Bezug auf
ihre Ahnenforschung, meinte die Frau hinter dem Tresen. In einem Teil der
Fälle, so hatte sie gehört, wurden sehr persönliche Unterlagen wie zum Beispiel
Kopien von Testamenten, juristische Dokumente und manchmal sogar persönliche
Briefe ausfindig gemacht. Und Camille Malraux war ja schließlich ein ziemlich
ausgefallener Name, zumindest im flämischen Teil Belgiens.
Dann drückte
die Frau auf einen grell leuchtenden roten Knopf, woraufhin ein Signal ertönte
und eine neue Wartenummer auf dem digitalen Bildschirm über ihrem Kopf
aufblinkte.
Don
überredete Eva, gemeinsam in einem Taxi die historische Altstadt mit ihren
mittelalterlichen Mauern zu verlassen. Als sie eine steinerne Brücke über einen
Kanal passiert hatten, veränderte sich das Stadtbild schlagartig und wurde
modern und charakterlos. Es schien, als hätten die Gelder für den historischen
Wiederaufbau dieser Bezirke nicht mehr gereicht.
Das
Stadtarchiv und die Bibliothek lagen Tür an Tür in einem kubusförmigen Gebäude
aus roten Ziegelsteinen und Glas in der Weverijstraat. Bereits im
Eingangsbereich warb man in fünf Sprachen damit, mehr als 130 000 Regalmeter
wertvoller Dokumente zu verwahren. Doch als sie sich zu einem der kleinen
Büroabteile des Archief en Genealogie, dem Archiv
für Ahnenforschung durchgeschlagen hatten, schien der Enthusiasmus darüber,
die Unterlagen ans Tageslicht zu befördern, nicht besonders groß zu sein.
Das junge
Mädchen, das hinter dem Bildschirm eines Computers mit grauem Kunststoffgehäuse
saß und gähnte, konnte kaum mehr als zwanzig Jahre alt sein. Sie war entweder
eine Praktikantin oder eine absolute Fehlbesetzung. Sie hatte weiße dünne Arme,
trug violetten Lippenstift und ein schwarzes T-Shirt, auf dem hinter der
Aufschrift »Church of Satan« ein blutroter Ziegenkopf leuchtete.
Das
Mädchen steckte sich ein Kaugummi in den Mund und gähnte noch einmal
demonstrativ gelangweilt in Richtung des älteren Herren, der das Pech hatte,
gerade auf dem Stuhl vor ihrem Schreibtisch zu sitzen. Als er schließlich
aufstand um zu gehen, offenbar ohne eine Antwort auf die Fragen betreffend
seiner Vorfahren erhalten zu haben, holte das Mädchen ein blaulilafarbenes
Taschenbuch hervor, in dem sie mit großem Interesse zu lesen begann.
Don warf
einen Blick auf Eva, ging dann auf den Schreibtisch zu und hüstelte kurz.
»Een
moment ...«, wies ihn das Mädchen trotzig auf Flämisch zurück, ohne ihn eines
Blickes zu
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