Wallentin, Jan
den
Schlüssel im Schloss der Schiebetür drehte und sie mit kleinen Bewegungen zur
Seite schob.
Als Don
den Kopf hinaus in die Nachtluft steckte, sah er, dass der Güterbahnhof nur
punktuell erleuchtet war, und der Weg zum um die hundert Meter entfernt
liegenden Ausgang des Terminals offen vor ihnen lag. Am Ausgang befanden sich
zwei schlichte Holzschranken, neben denen ein Wärterhäuschen mit erloschenem
Licht stand. Am Fuße eines Hebekrans hockten einige Nachtarbeiter in ihren
gelben Neonwesten. Sie schienen mit Schweißarbeiten beschäftigt zu sein, denn
hin und wieder leuchtete eine weißblaue Flamme auf.
Don half
Eva vom Güterwaggon herunter und sie landete mit ihren Pumps im Schotter. Dann
wühlte er in seiner Tasche und fand den zylinderförmigen Inhalator für
Notfälle, der Trichlorethen enthielt, machte zwei schlürfende Atemzüge und
spürte, wie ihn eine entspannende Ruhe befiel. Daraufhin ließ Don die
Schiebetür ins Schloss fallen und atmete den Geruch von Gummi und Diesel ein.
Als sie
sich auf die gelbschwarzen Schranken am Ausgang zubewegten, knirschte es bei
jedem Schritt unter ihren Schuhen. Irgendwo weit hinter ihnen meinten sie, ein
Rufen zu hören.
Anstatt
sich umzudrehen und zu lauschen, woher die Stimme kam, erhöhte Don sein Tempo.
Eine halbe Minute später hatten sie das Wärterhäuschen passiert und waren auf
dem Weg in eine Art Industriegebiet.
Sie
suchten Schutz hinter einem Container und verharrten einen Augenblick um
festzustellen, ob sie auf dem Güterbahnhof jemand gesehen hatte und ihnen
möglicherweise gefolgt war.
Als
niemand kam, nahm Don die Karte, die Hex ihnen mitgegeben hatte, aus seiner
Schultertasche, um den Weg in die Innenstadt von Ypern zu finden. Eva deutete
auf einen offenen Platz, der offenbar Grote Markt hieß, und an dessen Rändern
mehrere rote Kreise mit dem Buchstaben »H« eingezeichnet waren.
Saint Martin d'Ypres
Hotel
Langemark befand sich in einem Ziegelhaus aus dem siebzehnten Jahrhundert, das
so schmal zwischen den anderen eingeklemmt lag, dass es trotz einer Höhe von
zwanzig Metern nur über wenige Zimmer verfügte. Die Fenster waren mit weißen
gitterförmigen Sprossen versehen, und wie jedes Gebäude, das am mittelalterlichen
Marktplatz von Ypern stand, war das Haus nach dem Krieg von Grund auf,
Ziegelstein für Ziegelstein, neu errichtet worden.
Über dem
Außenbereich des Hotels hing eine schlaffe rotweiße Markise, und es dauerte
lange, bis der Nachtportier herunterkam und öffnete. Er machte müde eine
abwehrende Geste, als Don erklären wollte, warum sie weder Pässe noch
Personalausweise bei sich hatten.
Gegen eine
Vorauszahlung in Bargeld nahm der alte Mann aus dem Schränkchen hinter dem
Rezeptionstresen einen Schlüssel vom Haken. Ohne weitere Nachfragen humpelte er
vor ihnen eine steile Treppe zum dritten Stock des Hotels hinauf. Dort öffnete
er ein heruntergekommenes Zimmer mit groß gemusterten Tapeten, dessen
Sprossenfenster auf die Fassade der Tuchhallen wiesen.
Als der
Nachtportier gegangen war, legten sie sich Seite an Seite auf den weichen
Überwurf des Doppelbetts, um sich noch eine Weile auszuruhen, bevor es Morgen
wurde. Doch es dauerte nicht lange, bis sie beide eingeschlafen waren, ermattet
von der langen Zugreise.
Als Don
gegen neun Uhr erwachte und sich selbst im Spiegel des Hotelzimmers erblickte,
begriff er, dass sie in der Tat Hex' Rat befolgen sollten. Die Ärmel seines
Jacketts waren nach der Kletterpartie aus dem Kellerfenster auf Djurgärden
zerrissen, und entlang der Beine seiner Manchesterhose verliefen braune
Erdspuren.
Eva sah in
ihren zerknitterten Kleidern auf einem Stuhl sitzend ebenfalls nicht besonders
elegant aus. Ihr Unterschenkel war immer noch mit einer Bandage umwickelt, und
auf ihrem linken Schuh befanden sich rostrote Blutflecken.
Don schlug
vor, noch vor dem Frühstück neue Kleider zu besorgen. Als Eva nickte, half er
ihr auf, und draußen im Korridor bot er ihr zuvorkommend seinen Arm als Stütze
an. Doch Eva meinte kurz angebunden, dass sie die steile Treppe alleine
hinuntersteigen könne. Als sie in der Septembersonne über den großen Platz spazierten,
fiel ihm auf, dass sie überhaupt nicht mehr humpelte.
Don hatte
sich vorgestellt, dass sie die Sache schnell hinter sich bringen würden, doch
eine Stunde später liefen sie immer noch in den Gässchen um den Grote Markt
herum und suchten nach passenden Kleidern für die Rechtsanwältin. Er selbst
hatte im
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