Wallentin, Jan
Reichskriminalpolizei
bereits gestern eine internationale Suchmeldung herausgegeben hat. Ich habe
ihn vom Hotel aus angerufen, während Sie schliefen.«
Don
schielte zum Platz hinüber, während er langsam mit dem Löffel in seiner
Kaffeetasse rührte.
»Aha«,
sagte er schließlich. »Hat ihr Kollege bei Afzelius noch mehr angedeutet?«
»Er hat
gefragt, wo wir uns befinden; ich nehme an, dass er gebeten wurde, das zu tun.
Für den Fall, dass ich von mir hören lassen würde.«
»Und was
haben Sie geantwortet?«
»Wie es
ist. Dass wir das Land in einem privaten Güterwaggon verlassen haben und uns
nunmehr in einer kleineren Stadt im nordwestlichen Teil Europas befinden.«
Eva schob
ihren Teller zur Seite.
»Nein, ich
habe natürlich gelogen, wie Sie sich denken können. Wenn Sie möchten, kann ich
ja mal bei meinen ehemaligen Kollegen, den Strafverteidigern in Stockholm
nachhören, ob sie uns helfen würden, aber ...«
Sie
seufzte.
»Aber ich
weiß es wirklich nicht, Don.«
Er schaute
hinunter auf die Spuren in seinem Kaffeesatz. Dann saßen sie eine Weile
schweigend da, bis Don sich entschieden hatte:
»Ich
glaube, die Kathedrale, die man dort drüben sehen kann, ist Saint Martin.«
Er wies
auf einen gotischen Turm, der sich direkt hinter den monumentalen Tuchhallen
erhob. Eva verglich ihn mit dem Bild auf der Postkarte und nickte kurz.
»Wie ich
versucht habe zu erklären ...«, begann sie.
»Aber so
sah die Kathedrale vor dem Krieg
nicht aus«, meinte Don.
Er ließ
seine Hand in die gelbe Plastiktüte gleiten und nahm sein altes schmutziges
Manchesterjackett heraus, legte es auf seinen Schoß und tastete an der
Innenseite des Futters nach den festen Konturen der Pappe. Streckte schließlich
seine Finger am kaputten Innenfutter vorbei, fischte die Postkarte mit der
alten Fotografie heraus und hielt sie Eva hin.
»Hier
sehen Sie sie«, sagte Don und zeigte auf das vergilbte Bild. »Vor dem Krieg
hatte Saint Martin d'Ypres einen weitaus niedrigeren vierkantigen Turm, und
das Rosettenfenster war bedeutend kleiner.«
Eva
schaute das Bild lange an, ohne etwas zu sagen. Dann stellte sie ihr Weinglas
ab und nahm ihm die Postkarte aus der Hand. Drehte sie vorsichtig um und
seufzte, als sie die kurzen Zeilen auf der Rückseite erblickte.
»Und die
Postkarte ...?«, fragte sie ohne aufzublicken.
»Ich hab
sie in Erik Halls Schlafzimmer gefunden«, gestand Don.
Sie nickte
und las.
»Les
supremes adieux«, sagte sie. »Die letzten Abschiede.«
Dann legte
Eva die Postkarte zwischen ihnen auf den Tisch, die Zeilen mit blauer Tinte
nach oben gewandt. Sie schien für eine Weile in Gedanken zu versinken, bevor
sie fragte:
»Und was
ist noch bei Erik Hall zu Hause geschehen, von dem Sie nichts berichtet haben?«
»Dass ich
es war, der ihm die Flasche gegen den Kopf geschlagen hat.«
Die
Rechtsanwältin sah Don ohne zu lächeln forschend an. »La Cathedrale Saint
Martin d'Ypres also.« Don zeigte ihr die Druckbuchstaben in der oberen Ecke der
Postkarte.
»Eine
Fotografie, die ein paar Jahre vor dem Krieg aufgenommen worden ist«, fuhr er
fort. »Keine Briefmarke, keine Adresse, nur dieser kurze Vers.«
»Und er
hat ihn verfasst«, mutmaßte die Rechtsanwältin.
»Erik
Hall?«
»Nein«,
murmelte sie etwas abwesend, »nein, nicht Erik Hall, ich nehme eher an, dass
der Mann im Bergwerk ihn geschrieben hat.«
»Davon
könnte man ausgehen«, meinte Don.
»Aber
warum haben Sie sie Eberlein nicht gezeigt?«
Er dachte
nach, doch ihm fiel keine passende Antwort ein.
Eva ließ
die Sache auf sich beruhen, trank den letzten Schluck Wein und zog die
Postkarte etwas näher zu sich heran. Dann las sie die Worte laut, eines nach
dem anderen, so wie sie damals über die Konturen eines roten Mundes
niedergeschrieben worden waren.
La
bouche de mon amour Camille Malraux Le 22 avril L'homme vindicatif L'immensite
de son desir Les supremes adieux 1913
»La
bouche de mon amour Camille Malraux ...? Der Mund meiner Geliebten Camille Malraux
... oder die Lippen, nehme ich an«, übersetzte Eva und berührte den verblassten
Lippenstift.
»Cherchez
la femme«, entgegnete Don.
»Deswegen
sind wir also hier?«
»Irgendein
Ziel mussten wir ja schließlich haben.«
Eva
wiederholte murmelnd den Namen der Frau und fuhr dann fort:
»L'homme
vindicatif ... der rachsüchtige Mann, l'immensite de son desir ... sein
unstillbares Verlangen und les supremes adieux ... die letzten Abschiede.
Geschrieben am 22. April
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