Wallner beginnt zu fliegen (German Edition)
aus den anfangs höchstwahrscheinlich prätendierten später, wenn schon nicht echte Gefühle, so doch eine gewisse Zuneigung und Respekt wurden. So schrieb Romy Kraus im Sommer 2051, vielleicht nach einer Zeit der Krise, sehr ehrliche und herzliche Briefe aus Rom. ‚Du hast mir unheimlich viel gegeben‘, heißt es darin, und weiter: ‚Ich sehne mich nach Dir, nach Deiner Grummelbaßstimme, die Romylein sagt.‘ Ein halbes Jahr vor seinem Tod wurde mein Vater von Romy Kraus verlassen, was nicht nur seine Situation in der Wohnung massiv erschwerte – er war zu diesem Zeitpunkt, nach einer Thromboseoperation, ein Pflegefall und mußte für die wenigen kurzen Ausflüge im Rollstuhl das Treppenhaus heruntergetragen werden, da das Haus keinen Lift besaß –, sondern sich auch fatal auf seine Psyche auswirkte.“
Wendy steht auf, geht durch den Flur, öffnet und schließt die Wohnungstür hinter sich, steigt die Treppen im Treppenhaus herunter, öffnet und schließt die Haustür hinter sich, die Sonne scheint, Wendy kneift die Augen zusammen, geht in die Bäckerei nebenan, kauft sich eine Nußschnecke, öffnet und schließt die Haustür hinter sich, steigt die Treppen im Treppenhaus hoch, öffnet und schließt die Wohnungstür hinter sich, geht durch den Flur, setzt sich an den Schreibtisch, bewegt die Maus, damit die Aquariumslandschaft auf dem Bildschirm verschwindet, und beißt von der Nußschnecke ab.
„Mehrmals fragt er auf dem Krankenbett nach Romy und verfällt in Apathie, als man ihm sagt, sie habe gerade einen wichtigen Termin, sie komme später. Am 21. Oktober 2056 stirbt mein Vater nicht zuletzt wegen Romy Kraus als gebrochener Mann. Romy Kraus lebt heute in Bremen mit Chris Bräuer zusammen, dem Sänger der Band Puh .“
Wendy schaut auf den blinkenden Cursor auf dem Punkt hinter „zusammen“.
Kann ich sehr wohl, denkt sie.
„Seit einem Autounfall, bei dem Romy Kraus nur leicht verletzt wurde, zieht sich eine Narbe über ihre linke Wange, die ihr vormals so schönes Gesicht entstellt.“
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„Meine Großmutter Ana Wallner kümmerte sich rührend um ihre Mutter. Zwei Monate lang fuhr sie jeden zweiten Tag von Cham nach München ins Krankenhaus, brachte Kuchen mit, saß am Bett ihrer Mutter, unterhielt sich mit ihr und las ihr aus ihren Lieblingsbüchern vor, Goethe, Fontane, Thomas Mann, den Autoren des Landes, in dem sie doch niemals richtig heimisch geworden war. Auch vergaß sie nie Papier, Bleistift, Pinsel und Wasserfarben: Ihre Mutter hatte im Alter eine Leidenschaft fürs Aquarell entwickelt.“
Wendy löscht den letzten Satz.
„Seit ihrer Pensionierung hatte sich ihre Mutter, die am Gymnasium Kunst unterrichtete, ganz ihrem Hobby zugewandt, dem Aquarellieren. So stand ihre Wohnung in Salzburg“, Wendy löscht „Salzburg“, „München voller Bilder von Bukarest, die sie aus dem Gedächtnis malte, die Straße, in der sie aufgewachsen, die Landschaft vor den Toren der Stadt, wohin sie am Wochenende mit ihren Eltern zum Wandern gefahren war. Das ohnehin gute Verhältnis zwischen meiner Großmutter und ihrer Mutter wurde in dieser Zeit noch enger, so daß aus der an sich traurigen Situation, vor allem auch dank des Umstandes, daß meine Großmutter so relativ nahe bei ihrer Mutter wohnte – was wäre gewesen, hätten sie in anderen Ländern oder auch nur Bundesländern gewohnt? –, etwas Positives erwuchs.“
Wendy sagt: „LÖSCHEN ab ‚erwuchs‘“, „erwuchs“ verschwindet, „Positives“ verschwindet, Satz um Satz, das „h“, das „c“, das „a“, das „N“, der Cursor blinkt auf der leeren weißen Seite.
„Meine Großmutter und ihre Mutter hatten ein sehr enges Verhältnis. Meine Großmutter war über die Besuche und Gespräche mit ihrer Mutter wie überhaupt über jede Gelegenheit froh, Cham und die Situation dort für einige Stunden zu vergessen; meine Urgroßmutter war über die Besuche und Gespräche mit meiner Großmutter wie überhaupt über jede Gelegenheit froh, rumänisch und über Rumänien zu sprechen, das sie nicht vergessen konnte.“
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Während der Drucker läuft, hat Wendy auf dem Bildschirm zu lesen begonnen.
„Vor drei Jahren konnten wir unser 100-jähriges Bestehen feiern: 1953 gründete Karl Lindinger in der damaligen Nachbargemeinde von Cham, Chammünster, eine Reparaturwerkstätte mit einem Ersatzteillager für landwirtschaftliche Geräte.“
Wendy nimmt das Blatt aus dem Drucker, legt sich damit aufs Bett und liest weiter.
„1977
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