Wallner beginnt zu fliegen (German Edition)
Parkplatz auf dem Marktplatz, muß Wendy ihren ersten Eindruck revidieren, der bereits zu bröckeln anfing, nachdem sie durch ein Tor gefahren war, dessen Plakette es als Biertor auswies, und sie die leeren Straßen, die Klitschen überall sah. Es schüttet. Sie hat den Scheibenwischer angestellt. Die Kleider in der Auslage des Geschäfts direkt neben dem Parkplatz sehen wie eine schlechte Kopie jener Mode aus, die man vor drei Jahren in Berlin getragen hat, in der man sich jetzt aber lächerlich machen würde, überall, außer in Cham wahrscheinlich; die Unisexschaufensterpuppen mit ihren nur angedeuteten Gesichtszügen und den Gliedern, die man nicht mal zu bewegen können scheint, wirken wahnsinnig mickrig. Mickrig . That’s the word. Der Marktplatz verschwimmt.
Scheibenwischer.
Zzzk.
Neben dem einzigen Gebäude, das mit seinen Stufengiebeln historisch aussieht, aber mal wieder einen Anstrich gebrauchen könnte, steht ein grauer Betonklotz, auf dem sinnigerweise Frey steht; auf der Straße: kein Kopfsteinpflaster, sondern ein Teerfleckenteppich.
„Ja hat denn hier das Baureferat keinen Sinn für Einheitlichkeit?“ sagt Wendy laut im Auto, dessen Scheiben langsam beschlagen. „Wenigstens der Marktplatz sollte doch ein bisserl repräsentativ sein, für Touristen, hallo? Tourismus? Gibt’s so was hier?“
„Das glaube ich nicht, Wendy. Laut meiner Datenbank ging der Tourismus in Cham im letzten Jahrzehnt auf nahezu null zurück“, antwortet das Kommunikationsprogramm.
„Schon gut“, knurrt Wendy.
Scheibenwischer.
Zzzk.
Zwei Jugendliche mit hochgezogenen Schultern, hängenden Jeans, klatschnaß, sind am Auto vorbeigegangen, einer flucht wohl, Wendy versteht zwar nicht, was er sagt, aber laut und guttural war’s, ein phonetischer Leckerbissen denkt Wendy automatisch. Wenigstens das.
Für Costins Mutter muß es am schlimmsten gewesen sein. Stefan Wallner hatte seine Firma. Costins Mutter muß kreuzunglücklich gewesen sein. Wendy wäre an der Stelle von Costins Mutter kreuzunglücklich gewesen. Costins Mutter wird oft, wenn Costin in der Schule war, allein im Wohnzimmer gesessen und leise vor sich hin geweint haben. Jede Fahrt weg von hier, zum Einkaufen, wohin auch immer, die Reisen in den Schulferien werden ein Glück gewesen sein.
Was wird Costins Mutter gewesen sein? Sie wird Hausfrau gewesen sein. Damals ist man als Frau Hausfrau gewesen. Sie wird sich durch Malen abgelenkt haben. Sie wird Stadtansichten gemalt haben. Den Marktplatz. Die Natur. Wie Therese. Sie wird mit Freundinnen einen Lesezirkel gehabt haben. Eine gemütliche Runde. Sie wird respektiert und beliebt gewesen sein.
Nein.
Sie wird nicht respektiert und beliebt gewesen sein. Man wird neidisch auf sie gewesen sein. Im Dorf ist man immer auf die neidisch, denen es besser geht. Sie wird keinen Lesezirkel mit Freundinnen gehabt haben. Außerdem ist sie Rumänin gewesen. Es wird keinen großen Unterschied gemacht haben, ob sie in Deutschland geboren wurde oder aus Rumänien emigrierte. Wurde sie in Deutschland geboren, oder emigrierte sie aus Rumänien? Sie wird immer die Zugereiste gewesen sein. Nach Rumänien wird sie nicht oft gereist sein. Wendy hat eine Dokumentation über Rumänien gesehen, vor ein paar Jahren. Die Verhältnisse in Rumänien sind mafios und entsprechen trotz jahrzehntelanger EU-Mitgliedschaft nicht den westlichen Standards. Hatte außerdem Rumänien damals nicht noch dieses Diktatorenehepaar? Costins Mutter wird zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht nach Rumänien haben einreisen dürfen. Erst später. Costin wird ihr einziger Sonnenschein gewesen sein. Er muß ihre ganze Hoffnung gewesen sein. Was sie nicht konnte, sollte wenigstens er können, nämlich weg von hier, für immer. Als Costin das Haus verließ, wird sie sich ein Haustier genommen haben. Wenn man einsam ist, nimmt man sich ein Haustier. Einen Hund.
Nein.
Eine Katze. Eine Tigerkatze. Tigerkatzen passen viel besser zu Hausfrauen als Hunde. Stefan Wallner wird erst spät in Pension gegangen sein. Er wird einer dieser Workaholics gewesen sein. Stefan Wallner ist Wendy unsympathisch. Als er sein Kinderdorf-Projekt in Nigeria hatte, wird Costins Mutter ihn begleitet haben. Sie wird aufgeblüht sein. Stefan Wallner wird ihr einen Traum erfüllt haben. Sie wird eine kleine Boutique mit Original-Nigeria-Kunst in Cham eröffnet haben. Wendys Neger-Köpfe werden nicht von Costin in Deutschland gekauft worden sein, sondern sind eigenhändig von seiner Mutter
Weitere Kostenlose Bücher