Wallner beginnt zu fliegen (German Edition)
Sichtweite vorausfuhr, um seine Unabhängigkeit zu demonstrieren, wann diese Angst, daß Costin (und auch Ana, als sie Costin jede Woche zum Gesangsunterricht nach Regensburg brachte) etwas zustoßen könnte, aufhörte.
10
8. Juni
Nürnberg. Horten . Karstadt . Saturn .
11
Er hat die Hand flach auf den Schreibtisch gelegt und versucht, etwas langsamer zu atmen. Vielleicht haben sich an seinen Mundrändern kleine weiße Spuckeablagerungen gebildet. Wiget hat die ganze Zeit über bewegungslos mit übereinandergeschlagenen Beinen dagesessen und hat sich den Bart gestrichen.
Er sagt: „Wenn du das jetzt so erklärst, Stefan, mit deinem Vater und so, dann wird jetzt natürlich einiges klarer. Ja, jetzt wird einiges klarer. Ich meine, man konnte ja schon so was ahnen, im Prinzip. Das war ja auch jetzt alles nicht so tragisch, mir ist das eben aufgefallen. Eben auch, weil das früher nie so war, daß du so neben dir stehst, daß du die Leute so anfährst, wir hatten ja auch immer, würde ich sagen, wirklich ein sehr gutes Verhältnis.“
„Ja“, sagt Wallner und nickt einmal kraftvoll.
„Ja, und wie gesagt, dann ist es auch nicht so schlimm, wenn ich das jetzt weiß, aber paß halt besser auf, mit den Angestellten“, sagt Wiget.
Es entsteht eine Pause.
„Wie ist das zu Hause momentan, mit euch?“
„Hat sie irgendwas gesagt?“ fragt Wallner schnell und hat kurz von Wiget weg nach links auf die Fußbodenleiste aus hellbraunem Holz gesehen, Wiget hat „Hmhm“ gemacht und mit den Schultern gezuckt.
„Ich bin da oft unbeherrscht ihr gegenüber, und ich weiß auch, daß ich sie da oft verletze in letzter Zeit, und das ist so“, Wallner macht eine kurze Pause, „Scheiße“, schaut Wiget ins Gesicht, der sich noch immer den Bart streicht, und fährt fort, „daß ich da nicht mit dem Tod vom Papa, ich meine von meinem Vater, klarkomme und daß ich mich da jetzt auch noch an der Ana abreagiere. Ich will das nicht. Und ich. Ich schäme mich, Uli. Ich schäme mich.“
Es entsteht eine Pause.
Wiget fragt: „Habt Ihr schon darüber“, Wallner unterbricht ihn und sagt: „Wir werden das noch machen, wir müssen das machen, aber du weißt ja, wie es ist, von ihr kam jetzt noch nichts, und sie ist sich sicher im klaren darüber, wie schwierig das alles ist, für mich, aber alles weiß sie natürlich auch nicht. Wir werden darüber reden. Ja.“
Es klopft.
Frau Beck tritt ein und sagt: „Herr Wiget, etwas Dringendes wegen Wolnzach. Ein Herr Kaiser.“
Wiget steht auf. Frau Beck steht noch in der Tür. Wallner möchte zu Wiget gehen und ihn umarmen und noch einmal Danke oder etwas Ähnliches sagen, bleibt dann aber stehen, hebt den Arm und sagt: „Also, bis nachher dann, Uli, gell“ und lächelt kurz Frau Beck zu, die zurücklächelt. Nachdem sie die Tür geschlossen hat, setzt er sich wieder an seinen Schreibtisch und legt die Hand flach darauf. Er schaut auf die Fußbodenleiste aus hellbraunem Holz, links, und schlägt einmal sehr leicht mit der flachen Hand auf die Tischfläche.
12
Im Sekretariat ist jemand. Eine schwarze Gestalt hat sich hinter der Milchglasscheibe bewegt, jetzt wieder, obwohl Frau Beck das Gebäude schon längst verlassen hat. Sie verabschiedete sich etwa vor einer halben Stunde bei ihm. Er hat sie vom Fenster aus über den Parkplatz zu ihrem silbernen Ford stöckeln sehen. Er steht auf. Ihm ist etwas mulmig. Wer kann noch im Gebäude sein? Nur Breitenbacher sitzt noch in seinem Häuschen an der Pforte. Wallner geht leise zur Tür und reißt sie mit einem Ruck auf, er meint, gerade eben noch im geöffneten Spalt der Tür zum Flur ein Bein gesehen zu haben. Wallners Herz rast. Er tritt in den Flur, das Licht hat sich automatisch eingeschaltet. Der Flur ist leer. Wenn jemand vor Wallner aus dem Sekretariat gegangen ist, dann hätte das Licht schon brennen müssen; unmöglich, daß jemand die Bewegungssensoren überlistet. Aber da war jemand, Wallner ist sich sicher. Ratlos schließt er die Tür. Die Blätter des Ficus neben dem leeren Schreibtisch von Frau Beck zittern für einen Moment vom Luftzug und hängen dann wieder bewegungslos da.
13
Sie ist ruckartig aufgestanden und hat ihren Teller mit den Speiseresten klirrend auf den seinen gelegt. Ihre schwarzen Locken sind ihr dabei ins Gesicht gefallen, das hat sexy ausgesehen. Er wollte sie leicht am Arm festhalten, „Jetzt bleib doch mal da“, hat er gesagt, aber sie hat sich mit einer übertriebenen Bewegung losgemacht und ist
Weitere Kostenlose Bücher