Wallner beginnt zu fliegen (German Edition)
Nervosität, seine Gereiztheit, das alles könnte streßbedingt sein, seine Angestellten blicken ihn ja zudem seit neuestem mit diesen Augen an, man könnte manchmal tatsächlich glauben, sie führen etwas im Schilde gegen Wallner. Auch Wiget benimmt sich seltsam in letzter Zeit. Erst am Donnerstag war Wallner in sein Büro gekommen, Wiget hatte an seinem Schreibtisch gestanden, einfach so, es schien ihm nicht einmal peinlich zu sein, die Schubladen waren offen. „Du durchsuchst meine Schubladen?“ hatte Wallner gesagt, es sollte wie ein Scherz klingen. Wiget hatte das in den falschen Hals gekriegt, hatte „Du spinnst doch“ oder „Hast du sie noch alle“ gesagt und war hinausgestürmt, Wallner war ihm sofort hinterhergelaufen und hatte sich bei ihm entschuldigt. Aber nicht nur seit diesem Vorfall hatte Wallner das Gefühl, daß Wiget nicht mehr so offen und herzlich wie früher zu ihm war.
„Was ist das hier eigentlich?“ Wallner zeigt mit dem Finger auf einen schwarzen Fleck in einem der roten Flecken auf dem Bildschirm. Wallner muß an ein Baustellenloch in einer Straße denken. Dr. Kaduk hat Wallner für den Bruchteil einer Sekunde durchdringend angeschaut, als wüßte er etwas, was er Wallner nicht sagen darf. Als sei Wallner ihm auf die Schliche gekommen.
Dr. Kaduk sagt: „Zoomen wir doch einmal hin.“
Je näher der schwarze Fleck auf dem Bildschirm rückt, desto mehr färbt er sich rot ein, geht im roten Fleck um ihn auf.
„Ja, Sie sehen. Da ist nichts“, sagt Dr. Kaduk.
07
Die Frauenstimme sagt, er solle die nächste Ausfahrt nehmen. Wallner wollte für einen Moment einen Gang zurückschalten, dann ist ihm wieder eingefallen, daß der Mietvan ja Automatik besitzt. In der Ferne sind drei Kuppeln zu sehen, die Deutzer Bürotürme, in ihren Fenstern spiegelt sich das Licht der Nachmittagssonne; ganz dünn, zwischen den Hochhäusern: die Spitze des Doms. Wallner biegt in die Ausfahrt Bergisch-Gladbach.
Er hat heute schon einmal, in der Früh, als er aus Cham losgefahren ist, überlegt, ob er tatsächlich noch nie in Bergisch-Gladbach war, vielleicht in seiner Kindheit, mit seinem Vater am Wochenende, zum Wandern, ein Sonntagsausflug, aber nein, er ist sich jetzt sicher, während vorne die Ortseinfahrt von Bergisch-Gladbach auftaucht, das heute ist das erste Mal. Es wird deutlich, warum Günter Wallner aus Köln-Rodenkirchen hierhergezogen ist. Die dichten Laubwälder, die Hügel mit den Weiden, die Täler dazwischen, in denen es bereits düster zu werden beginnt. Ja. Man kann hier schön wandern. Günter Wallner ist gerne gewandert. Dadurch, daß Stefan Wallner, wie in diesem Moment, den Kasper macht („den Kasper machen“ = bei Kurven das Quietschen von Reifen imitieren plus der Frauenstimme des Navigationssystems mit „Jawohl“ und „Wird gemacht“ antworten), löst sich die Anspannung, die gestiegen ist, je näher er der Wohnung seines Vaters kommt, der ehemaligen Wohnung.
Ein Piepton erklingt, Wallner hält den Van an. Er sucht den Knopf für das Navigationssystem, schaltet versehentlich das Radio an, erst als er den Knopf darüber drückt, erlischt der Bildschirm mit dem Stadtplanausschnitt des Wohngebiets, der Straße, in der er jetzt parkt.
Sein Vater hat die letzten 17 Jahre in einer Wohnung in einem Mehrfamilienhaus mit Blick auf den knorrigen Apfelbaum im Garten davor gelebt.
Wallner drückt die oberste Klingel an der Haustür, die Klingel neben dem Namensschild Wallner . Es ist wahrscheinlich, daß hinter den Vorhängen in den Häusern gegenüber Hausfrauen, die gerade Mittagessen kochen, oder Rentner, deren Hauptbeschäftigung es ist, jedes Geschehen im Wohngebiet zu verfolgen, auch jetzt, Wallner beobachten, er kann ihre Blicke regelrecht auf seinem Körper spüren. Vielleicht auch Bekannte seines Vaters, Freunde, die sich bei ihm einmal wöchentlich zum Kartenspiel trafen.
Die Haustür öffnet sich, aufgestaute Wärme schlägt Wallner entgegen, Klebstoffgeruch. Ana steht in der Tür der ersten Wohnung im Erdgeschoß.
Sein Vater hat in einer Erdgeschoßwohnung gelebt.
Ana umarmt Wallner und fragt ihn, wie die Fahrt gewesen sei. Ana schwitzt. Sie führt ihn durch die Wohnung, sagt: „Also das war“ – sie sagt war , nicht ist – „das Wohnzimmer, hier das Schlafzimmer, das die Küche“, sagt: „Hier war das Bad“ und deutet auf die Kartons mit den Gegenständen, die sie schon eingepackt hat, das Radio, den AB. Auf dem Glastischchen vor dem schwarz bezogenen Sofa
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