Wallner beginnt zu fliegen (German Edition)
schon bevor er aus dem Handy gekommen ist, sozusagen soundtrackmäßig, in den letzten Momenten seines Traums, gerade eben, im Ohr gehabt, also innerlich; eigentlich eine Szene aus seiner Jugend, da wo sein Opa, väterlicherseits jetzt, bei diesem ICE-Unglück gestorben war; also Costin kommt so die Treppe im alten Haus in Cham runter, hört Geräusche aus der Küche, er schaut nach, da ist der Tata, obwohl er eigentlich im Büro sein müßte um diese Zeit, da ist der Tata und macht sich einen Toast und hat so einen merkwürdigen Gesichtsausdruck, dabei tut er, als sei gar nichts, und erwähnt mit keinem Wort, daß irgendwas mit dem Opa passiert ist, und das ist direkt nachdem er die Todesnachricht im Büro bekommen hat, wie abgefahren ist das denn bitte? Und eben diesen strangen Gesichtsausdruck vom Tata hatte Costin eben im Traum vor Augen, als er zum Weckton mit der Du -Melodie aufgewacht ist.
Costins erster Blick fällt, wie könnte es anders sein, auf die Umzugskartons, die, immer noch, hier im Schlafzimmer rumstehen, und damit kommt auch – Costin braucht gar nicht anzufangen, die Sekunden zu zählen –, sozusagen automatisch, die Assoziationskette, die sich ihm irgendwie, wenn er sich jetzt nicht irrt, seit er hier im Apartment am Prenzlauer Berg wohnt, also seit fast einem halben Jahr, praktisch jeden Morgen aufdrängt: UmzugskartonsSachen aus Mamas Wohnung in BukarestMama totMama allein gestorbener Alleinerbeer in Australien (als Mama stirbt)er schuld (an allem) (irgendwie).
Costin greift nach dem Handy und schaut auf die Uhr. Es ist immer wieder erstaunlich, wie schlecht er sich selbst einschätzen kann, denn als er gestern den Wecker für den Termin jetzt dann in einer Dreiviertelstunde stellte, da hatte er tatsächlich gedacht, daß er sofort aufstehen würde, sich anziehen, aufbrechen et cetera. Nach seiner Planung von gestern müßte er, Costin, in diesem Moment eigentlich im Bad sein und duschen. Statt dessen liegt er jetzt immer noch hier im Christopher-Bett und denkt lediglich daran, daß er ja eigentlich schon im Bad sein und duschen müßte. Auch der folgende Gedanke ist so unausweichlich wie die allmorgendliche Mama-Assoziationskette: Wenn er jetzt aufsteht, sein Blick auf die paar französischsprachigen Bücher in seinem Regal, Tatas ehemaligen Nigeria-Schreibtisch fällt und er im Flur mit seinen nackten Füßen – kalt! – auf den Nigeria-Flickenteppich tritt, wundert er sich – wohl ausgelöst durch die Mama-Assoziationskette eben –, daß er Schuldgefühle gegenüber der Mama hat (immer noch), niemals aber gegenüber dem Tata (hat und hatte).
In der Küche steht ein kleiner Umzugskarton auf dem Boden. Costin weiß, daß sich darin Mamas Espresso-Maschine befindet, blau, mit der roten Aufschrift Espresso . In allen Zimmern des Apartments stehen noch Kartons, auch mit Sachen von ihm selbst, aus Australien. Vasen, das Didgeridoo, gerahmte Fotos, Einzelteile eines Regals, dunkelbraun. Costin hat die Kartons wenigstens schon mal an die Stellen gestellt, wo dann später einmal die in ihnen verpackten Sachen stehen sollen – Costin muß halt nur mal die Zeit und die Kraft für diesen Auspack-Act finden. Dadurch, daß die Kartons schon so lange einfach so rumstehen, ist er sich aber in einigen Fällen nicht mehr so ganz sicher, was eigentlich der ein oder andere Karton beinhaltet: Vase, Fotos oder Regaleinzelteile. Das Ganze wird mal wie Weihnachten werden, er sieht es schon kommen.
Irgendwie hatte er beim Duschen, Anziehen, U-Bahn-Fahren die ganze Zeit über so einen Gedankenflash aus Münchener Freiheit , Flugzeugabsturz, Mama, Bukarest, Cham gehabt, dazu immer diesen Du -Song im Ohr, so daß er gar nichts von dem Weg mitbekommen hat und fast ein bißchen überrascht gewesen ist, als er plötzlich – nur eine halbe Stunde verspätet – vor dem Salamander -Schuhgeschäft stand, in dessen Keller sich das Studio Dicke Klunker befindet, er mußte die Route schon so intus haben, daß er sie sozusagen blind gegangen war.
Die Aufnahmen sind schon voll im Gang gewesen, als er in den Regieraum kommt, er hat an der Tür gewartet, bis Tau und ihre Band hinter der Glasscheibe im Aufnahmeraum ihren Song beenden. Skjold am Mischpult (Spitzname nach seiner ersten und bisher einzigen goldenen Schallplatte vor fünf Jahren: Skjold ist Gold ) nickt ihm kurz zu. Tau singt gerade den zweiten Song von dem Demo-Tape, das damals, vor ein, zwei Monaten per Post, unaufgefordert, an Costins Record-Label BIBO
Weitere Kostenlose Bücher