Wallner beginnt zu fliegen (German Edition)
gegenübersitzt, sucht Costin sein Gesicht nach Falten und sein Haar nach grauen Strähnen ab, schließt die Augen, als die Visagistin ihm über die Nase und die Stirn pudert. Er geht zurück durch den Flur, in dem jetzt ein Kleiderständer mit Kinderkleidung steht und hinten, ganz am Ende, die junge sportive Frau mit Headset allein redend auf und ab geht; er setzt sich wieder auf seinen Platz auf dem Sofa im Warteraum, faltet die Hände hinter dem Kopf. Der Monitor zeigt die halbdunkle Bühne mit den vier Stühlen für die nächsten Gäste – Lore hat immer vier Gäste –, aus dem Hintergrund kommt das gedämpfte Geräusch des Publikums, das für die nächste Sendung Platz nimmt. Lore betritt die Bühne, sie trägt ein 19.-Jahrhundert-Rüschenkleid, so wie es jetzt wieder Mode ist, vereinzelt wird applaudiert, man ist wohl etwas verwirrt, daß es schon losgehen soll. Lore hebt beschwichtigend die Hände, sagt in das Mikro in ihrer Hand: „Hallohallo, liebe Leute“, sagt, daß es gleich losgehe.
Costin versucht erneut aus den Augenwinkeln heraus festzustellen, wer von den anderen Gästen im Zimmer, von denen inzwischen auch der letzte, der Mann mit dem zerstörten Gesicht, vor dem die Maske kapituliert zu haben scheint, zurückgekommen ist, am ehesten so aussieht, als sei er schon siebenmal geboren worden. Die junge sportive Frau mit dem Headset öffnet die Tür und teilt mit, in welcher Reihenfolge sie auftreten. Costin, den sie Herrn Wallner genannt hat, ist der zweite Gast heute und kommt nach dem Jungen mit dem Gameboy, der jetzt aufgestanden ist und mit der Frau mitgeht. Auf dem Monitor kommt Lore mit Applaus auf die hell erleuchtete Bühne, sie hebt beschwichtigend die Hände und sagt durch das Mikro in ihrer Hand: „Hallohallo, liebe Leute.“
Die Einstellung zwischen Lore, die den Jungen ankündigt, und der leeren Kulisse, aus der er dann endlich tritt, das Publikum hat schon aufgehört zu klatschen, wird später geschnitten werden, Costin ist sich da sicher.
„Peter E., dessen Name für die Sendung geändert wurde, ist mit 17 Opfer einer Familientragödie geworden“, sagt Lore, die neben Peter E. Platz genommen, eine Halbbrille aufgesetzt und auf eine Stichwortkarte geschaut hat.
Peter E.s Vater hat eines Nachts zu Hause im Streit mit Peter E.s Mutter deren Kopf mehrmals auf die Kante des Eßzimmertischs geschlagen. Peter E. hat währenddessen in seinem Kinderzimmer geschlafen und aus für ihn unerfindlichen Gründen nichts von dem Ganzen mitbekommen. Erst als die Polizei und später die Sanitäter eintrafen, von den Nachbarn alarmiert, ist er aufgewacht und hat den blutverschmierten Eßtisch, seine Mutter mit eingedrücktem Kopf auf der Bahre liegen, seinen Vater in Handschellen auf dem Eßzimmerteppich knien gesehen.
„Die Mutter war zu diesem Zeitpunkt schon tot“, sagt Lore. „Das war vor sechs Jahren. Möchtest du uns sagen, wie diese sechs Jahre für dich gewesen sind, Peter?“
Costin erinnert sich, daß er einmal vor einiger Zeit eine Crime-Show im Zweiten gesehen hat, wo genau dieser Fall oder jedenfalls so was Ähnliches vorkam, und in den nachgestellten Szenen, verwackelt und in Zeitlupe, Peter E.s Mutter beziehungsweise eine Frau von Peter E.s Vater beziehungsweise eine dunkle Gestalt an den Haaren gepackt und mit dem Kopf auf einen Gegenstand geschlagen wurde, bis ihr das Blut aus der Nase und übers Kinn gelaufen war.
Peter E. sagt, es habe lange gedauert. Er habe ja auch niemanden gehabt. Sein Vater sei im Gefängnis, er wolle ihn auch gar nie wiedersehen. Er habe allein gewohnt, er sei ja damals gerade volljährig geworden. Nur seinen Therapeuten habe er gehabt. Nur sehr langsam werde er wieder der, der er vor dieser Nacht gewesen sei. Noch immer durchlebe er diese Nacht und habe Angst, daß sein Vater plötzlich vor der Tür stehe. Je mehr Bekanntschaften und Freunde er aber habe – er studiere jetzt Informatik –, desto seltener kämen diese Zustände. Desto rascher normalisiere sich alles. Lore hat Peter E. mehrmals, während er ihre Frage mit monotoner Stimme beantwortet, bei der Hand gefaßt. Am Ende hat sie ihre Hand auf seine Schulter gelegt, hat sich zu ihm vorgebeugt und irgend etwas sehr Positives, Aufbauendes, Mütterliches zu ihm und dem Publikum gesagt. Sie stellt diesen Lore-Touch her, diesen Eindruck, daß sie sich wirklich darum kümmert, was ihre Gäste erlebt haben und wie es ihnen geht, deswegen auch die Quote, deswegen der feste Sendeplatz seit über
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