Wallner beginnt zu fliegen (German Edition)
in das schwankende Boot zu schwingen. Harvey sitzt schon auf der Bank, hat das Tauchgerät abgeschnallt. Costin nimmt den Schnorchel aus dem Mund und zieht sich die Maske vom Gesicht. Harvey wirft den Motor an und steuert auf die Küste zu. Das Wasser glitzert. Der Himmel ist dunkelblau. Am Bootssteg verabschiedet sich Harvey von Costin, weil er am Nachmittag noch die Anfängerkurse für die Touristen geben muß.
Mit wie vielen seiner Schülerinnen Harvey, der in seinem Tauchanzug für Costin in diesem Moment, Rückenansicht, noch immer eine gute Figur macht, tatsächlich schläft, ist nicht herauszukriegen. Weil Costin, als er damals bei ihm Tauchstunden nahm, manchmal gesehen hatte, wie Harvey blonden Teenager-Mädchen, den reichen Töchtern der Papas und Mamas, die hier Urlaub machten, nach dem Tauchgang über die Wange strich, sie in den Arm nahm und ihnen dabei etwas ins Ohr flüsterte, sind Affären vorstellbar. Das Mädchen würde in der Nacht zum vereinbarten Treffpunkt laufen, einem versteckten Platz am Strand, und sich dabei mehrmals umsehen, ob ihr auch niemand vom Hotel folge, eine blonde Strähne würde ihr ins Gesicht fallen, Harvey würde alles für ein Lagerfeuer vorbereitet haben, das Mädchen würde sich an ihn schmiegen, sie würden sich küssen, das Mädchen würde Harvey zu seinem Haus begleiten, das sich strategisch günstig nicht allzuweit von dem Strandstück entfernt befindet. So wäre das.
Harvey wird jedenfalls heute abend, wenn Costin ihn in ihrem Stammpub trifft und mit ihm in der booth ganz hinten links sitzt, als erstes von seinen blonden Schülerinnen erzählen, und Costin wird, wie seit einem Monat, seit der Trennung von Gwendo, von Harvey, der nicht sehen will, was für ein lächerlicher alter Sack er eigentlich ist, ja, angewidert sein. Nachdem Gisela, die Besitzerin des Pubs, die mit Costin inzwischen nicht wie noch am Anfang, als er zum ersten Mal mit Harvey hierhergekommen war, einen kurzen Smalltalk auf deutsch macht, sondern lediglich mit einem „Hi guys“, ungefragt, das Lager-Import und Costins Lasagne auf den Tisch stellen wird, wird Costin diesmal wieder keine Geschichte à la 100-Groupies-wollten-michund-ich-hatte-Erbarmen erzählen, sondern gleich auf die für März geplante Herbst-Reise überleiten, im Wohnmobil einmal um den Kontinent, über Darwin, Perth, Melbourne, um was man sich noch kümmern müsse, welche Route die bessere sei et cetera. Harvey wird wieder auf sein Vorhaben zu sprechen kommen, im August zu dieser einsamen Insel zu fahren, am Kap York, und zu diesen Korallenbänken, in diesen Farben, knallgelb, grün, rot, von denen er Costin schon bei einem ihrer ersten Treffen erzählt hat und von denen Costin damals im Unterschied zu jetzt noch annahm, daß er sie zusammen mit Harvey, wenn nicht diesen, dann nächsten, und wenn nicht nächsten, dann den übernächsten August tatsächlich sehen würde, die Insel und diese Korallenbänke.
Costin hofft, daß Harvey nicht Seymor Ass, angeblich Ex-Porno-Darsteller und momentan, nach eigenen Aussagen, Produzent für australische Popacts, mitbringen wird, der wieder versuchen würde, Costin einzureden, eine neue Karriere als Sänger, hier in Cairns, und dann als nächstes in Sydney zu starten.
Im Schlafzimmerschrank hängen noch ein paar von Gwendos Sachen, oben im Fach liegt noch ihre Taucherausrüstung, weiß Costin, im Flur hängt ihr Aborigine-Bild, das sie beim gemeinsamen Besuch im Reservat bei Alice Springs gekauft hat.
Als Costin mit dem T-Shirt und den Shorts unterm Arm auf dem Weg zum Badezimmer vor dem Ganzkörperspiegel im Flur stehenbleibt und sich im Taucheranzug mit hochgezogener Maske betrachtet, hat er plötzlich, ohne daß er sich das jetzt vorgestellt hätte oder daß er etwas genommen hätte – Costin nimmt nichts mehr –, ein Bild vor Augen. Und noch während Costin realisiert, daß das, was er da eben im Spiegel gesehen hat, Jimmy Corrigan gewesen ist, genannt „The Smartest Kid on Earth“, daß er, Costin, für einen Moment Jimmy Corrigan gewesen ist, steht da plötzlich jemand anderes vor ihm, kein Zweifel: das Bild der fetten Katze, die am liebsten Lasagne frißt .
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Costin erwacht vom Refrain von Du , der Hitsingle des gleichnamigen nach dem Flugzeugabsturz der Band posthum veröffentlichten und mit einem MTV Europe Music Award ausgezeichneten Albums der Münchener Freiheit – besser gesagt, von der elektronischen Weckton-Fassung seines Handys. Tatsächlich hat er den Weckton,
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