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Walloth, Wilhelm: Im Schatten des Todes. 1909

Walloth, Wilhelm: Im Schatten des Todes. 1909

Titel: Walloth, Wilhelm: Im Schatten des Todes. 1909 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walloth
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aufgeblähten Hahns – möcht ihm die Tugendmaske vom Heuchlergesicht reißen . . . Wie kommst du auf solche Wendungen?!«
    »Die Gedichte Märzlers,« entschuldigte sich Karl, »sind ›geistlicher‹ Art . . .«
    »Was berechtigt dich Wendungen zu gebrauchen wie die: er schielt durch seine fromme Maske mit dem linken Auge nach einem Orden, mit dem rechten nach Beförderung und legt sich dabei mit hochmütiger Geberde die Falten seines Priestertalars zurecht . . . er kann sich beruhigen, sein Streben wird höheren Orts belohnt werden . . .«
    »Ich habe dir hier sein Werk mitgebracht,« sagte Karl. »Lies die Sachen durch, ob ich nicht recht habe.«
    Körn nahm das Bändchen in Empfang.
    »Aus dieser Kritik,« tadelte der Vater, »spricht übrigens ein ganz anarchistischer Geist . . .«
    »Ich bin auch Anarchist in gewissem Sinne,« versetzte der Sohn trotzig.
    »Unsinn!« fuhr ihn der Direktor an. »Du bist gar nichts. Du hast in der Schule zu arbeiten, weiter nichts. – Und hier . . . hast du dir auch Ausfälle gegen Militär, Staat und Kirche erlaubt?! Karl, Karl, du bist ein Verlorener! Ich werde meine Hände von dir ziehen. Diese Anklage kommt mir gerade recht, ich sage mich von dir los! . . . Da siehst du nun deine Kinder!« Die letzte Phrase galt seiner Frau.
    »Wenn du nur nicht immer von meinen Kindern sprechen wolltest!« fuhr sie auf. »Als wenn du ganz unbeteiligt gewesen wärst! Was Karl anlangt, so laß ihn doch austoben. Welcher Jüngling war nicht mal eine Zeit lang Anarchist? Das kommt nur vom Zwang des Gymnasiums, von der väterlichen Strenge.«
    »Bei mir, liebe Mama,« wendete Karl ein, »entspringt der Anarchismus aus tieferen Quellen. Meine Überzeugung lautet: nur die Gesetzlosigkeit ist das oberste Gesetz, weil der Mensch sich selbst ein Gesetz . . .«
    »Ach, lieber Karl,« beruhigte ihn die Mutter, »du hast zu viel Nietzsche gelesen.«
    Sofort griff der Direktor dies Wort auf. »Das ists,« donnerte er. »Dieser gottverfluchte Nietzsche verwirrt den jungen Leuten die Köpfe. Dieser wahnsinnige Halbphilosoph, den man polizeilich verbieten sollte, macht die unreife Welt wahnsinnig. Du liest mir keine Zeile mehr von diesem Umwerter aller Werte! Es bleibt dabei: wenn Dr. Simmer auf einer Anklage besteht, fliegst du aus dem Gymnasium. Dann kannst du sehen, wohin du mit deinem Anarchismus kommst . . . Und jetzt fängt der auch noch an!« schimpfte er, mit bösem Blick nach der Salontüre, aus der soeben Klavierspiel ertönte. »Ich bin der reinste Irrenhauswärter. Eduard ist gerade so verrückt wie ihr beide; aus dem wird auch nichts. Meint, er sei ein musikalisches Genie! Sein Genie steckt nur in seinen langen Haaren. Das sind nun deine Kinder!« fuhr er wieder seine Frau an, die wiederum nicht verfehlte, ihm dies »deine« vorzuwerfen. Er fuhr fort: »Ich bezahle nur noch ein halbes Jahr seine Studien. Warum brach er mitten in der Juristerei ab, der Phantast! Und du, Karl, wirst gefälligst alle Hebel in Bewegung setzen, daß keine Anklage kommt. Ich kümmere mich gar nicht um die Sache!«
    Mit diesen Worten eilte er aus dem Zimmer.
    Nun trat Eduard herein. Der Bruder Karls war ein langaufgeschossener Mensch mit blonden Schmachtlocken, die ihm über die Schultern herabhingen. Er trug stets ein bleiches ›fürnehmes‹ Dulderantlitz zur Schau und hatte wegen seines pathetisch idealen Benehmens im Vorstadtviertel den Spitznamen »Der Gott« erhalten. Die ganze Nachbarschaft war außer sich darüber, daß er am Klavier stundenlang ewig dieselben Stellen wiederholte. Unter allen seinen Briefen stand: Eduard Körn, Sänger, Schriftsteller und Komponist. Er schrieb nämlich auch zuweilen Kritiken. Nun schüttelte er sein löwenmähniges Künstlerhaupt und fragte mit einem Pathos, als wolle er im fünften Akt der Tragödie aufs Schaffot wandeln: »Was hat er wieder, er, der den großen Richard Wagner nicht versteht?«
    »Kinder,« wendete sich die starkknochige Mutter an ihre beiden Sprößlinge, »laßt ihn! er versteht uns nicht, diese pedantische Schulmeisterseele. Wartet die Stunde ab, in der die Welt uns anerkennend zu Füßen liegt, dann erst wird er sich bekehren und einsehen, – was er heute schon sehen sollte . . .« Ja, ja, dachte sie weiter, dann sind es meine Kinder, die er mir immer vorwirft . . .
    Eduard blickte mit majestätischem Augenaufschlag zur Decke.
    »Meine sechs Vertonungen von Nietzsches Liedern sind beendet,« sagte er. »Du hast mir

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