Walloth, Wilhelm: Im Schatten des Todes. 1909
während ihn das Rasseln des Wagens umdröhnte, darüber nach, welches Aufsatzthema er seinen Primanern stellen sollte, – ein Thema, das er dann später selbst bearbeiten könnte, denn in seiner Prima waren gute Köpfe, deren Gedanken ihm schon manche Anregung gegeben hatten.
Doch ehe er etwas gefunden, geriet seine professorale Größe dadurch sehr ins Gedränge, daß sich dicht vor ihn hin ein außerordentlich dickes Gemüseweib aufpflanzte, in deren hoch vor ihm aufgebauschter Kleiderwölbung sein Gesicht fast verschwand. Aufstehen konnte er nicht. Nur gut, daß ihn kein Schüler in seiner üblen Lage sah, die er endlich mit philosophischer Resignation ertrug.
Dann beschäftigten ihn einige Erziehungsprobleme. Sein Sohn hatte ihm vorgestern bei Tisch gesagt: »Da preist man uns ewig die alten Griechen! wenn wir uns aber mal deren Leben ernstlich zum Vorbild nehmen würden, wollt ich sehen, wie wir aus dem Gymnasium flögen!« Wie konnte man die Sitten der Alten in eine höhere Verbindung bringen mit dem Leben unserer Zeit? Halt . . . das war ja ein famoses Aufsatzthema!
Doch hatte er keine Zeit, diesen Gedanken weiter zu verfolgen. Die Trambahn hielt; mit elegantem Sprung stieg er aus – er war stolz auf seine jugendliche Rüstigkeit – und trat durch das eiserne Gittertor in den großen Hof, in dem der Sandsteinprachtbau der Geisteskaserne (wie sein Karl das Gymnasium nannte) sich hinter grünen Bäumen erhob. Jetzt gelangte er durch den breiten Korridor in sein hübsches Direktorzimmer.
Hier fühlte er sich als Herrscher, hier störte ihn keine kleinliche Familienrücksicht, hier erlosch die keifende Stimme Katharinas, der Fisch war in seinem Element. ›Hier bin ich Mensch, hier darf ichs sein!‹ Nachdem er in seiner elegant-würdevollen Weise Hut und Mantel abgelegt, trat er in das anstoßende Lehrerzimmer, in dem bereits die meisten Lehrer sich versammelt hatten.
Alle grüßten den vom Kultusminister hoch geschätzten Pädagogen sehr achtungsvoll; einige mit kriechender, süßlicher Liebenswürdigkeit, andere wußten sogleich allerlei Schmeicheleien über sein Aussehen geschickt anzubringen.
Besonders der sehr stämmig gebaute protestantische Theologe Dr. Georg Simmer, heimlicher »Märzler«, ein ungemein korrekter Streber, verstand es, dem Direktor mit wahrhaft christlicher Selbstverleugnung den Hof zu machen, was den sonst doch scharfsichtigen Vorgesetzten indes durchaus nicht etwa abstieß. Wie der Kater, wenn er gestreichelt wird, behaglich schnurrt, nahm der Direktor die oft sehr plumpen Lobeserhebungen mit dankbarem Grinsen in Empfang. Dem Theologen gegenüber fühlte er sich nun in einiger Verlegenheit. Da er merkte, daß der Herr bis jetzt noch nicht wußte, wer ihn in so beleidigender Weise angegriffen, schwieg er über diese Sache. Dr. Simmer besaß absolut kein Talent, die Schüler an sich zu fesseln; im Gegenteil, es ging eine herzlose Kälte von seinen grünlich schielenden Augen auf die Zöglinge über. Seine Strafen waren hart; von christlicher Nächstenliebe war im Wesen dieses Zionswächters nichts zu bemerken. Seinen Religionsunterricht hätte man einen seelenlosen Geschichtsunterricht nennen können. Man erkannte an den ungeschlachten Bewegungen seiner plumpen Glieder den Metzgersohn vom Land. Seine starren, maskenhaft bleichen Gesichtszüge flößten den feinfühligeren Knaben Grauen ein, weckten die Spottlust der derberen.
Gar nicht leiden konnte diesen süßlich-schwerfälligen Mann Gottes der Physiker Külper. Auch am Unterricht hatte der dicke, kleine Mathematiker gar keine Freude; er hätte sich am liebsten ganz in seine Höhle, die Wissenschaft, zurückgezogen. Er sah ungefähr aus wie ein italienischer Baß-Buffo, hatte auch ähnliche groteske Manieren und humoristische Aussprüche. Seine Schüler lernten nicht viel bei ihm. Mit den Talentvollen stand er in behaglich-heiterem Verhältnis, die Faulen ließ er ruhig gewähren und nannte sie mit burlesker Verachtung: seinen Sumpf. Er ging den anderen Herren ängstlich aus dem Weg, sogar mit dem Direktor verkehrte er nur, wenn es unumgänglich nötig war. Prächtig anzusehen war der dicke Herr, wenn ihn, den ausgesprochenen Freigeist, eine feierliche Gelegenheit, etwa das Abendmahl bei der Konfirmation, in seinen engen Frack und in die Kirche trieb. Die älteren Schüler merkten ihm dann seinen inneren Ärger über die Ceremonie an, den er vergeblich unter einer gottergebenen Miene zu verbergen suchte.
Dann war hier der
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