Walpar Tonnraffir und der Zeigefinger Gottes (German Edition)
Medizin.
»Nimmst du keine Pillen?«, fragt Henriette plötzlich.
»Hm«, überlegt Kerbil. »Manchmal. Aber die sind nur gegen Aufmüpfigkeit und andere Nebenwirkungen der Pubertät.«
»Papa sagt, Kinder müssen aufmüpfig sein.«
»So was sagt dein Vater?«
Henriette verdreht die Augen. »Er ist nicht mein richtiger Papa. Eher so eine Art … Ersatzprogramm.«
»Verstehe«, lügt Kerbil.
»Ich hab ihn dabei, hier …« Henriette holt eine Manga-Puppe hervor.
»Ein Mädchenhandy«, sagt Kerbil, als würde er über eine ansteckende Krankheit sprechen.
Henriette streichelt ihrer Puppe über die Haare. »Papa?«, flüstert sie dabei.
»Hallo mein Liebling«, sagt eine Männerstimme aus dem Mund der Puppe. »Geht's dir gut? Sollen wir was spielen?«
»Vielleicht später«, entgegnet Henriette. »Ich bin gerade mit einem Jungen auf dem Weg zur Erde.«
Papa klingt verschwörerisch: »Ihr erlebt bestimmt ein spannendes Abenteuer, oder?«
»Hm, könnte sein … ja, bestimmt! Hier, Kerbil, sag Hallo zu Papa.« Sie hält ihm die Puppe hin.
»Ha… hallo«, bringt Kerbil hervor. Er kennt natürlich diese Personensimulationen, man kann sie ziemlich leicht aus dem Konzept bringen. Normalerweise macht Kerbil das 'ne Menge Spaß, aber diesmal hält er sich lieber zurück. »Ich bin der Assistent von Philip Marlowe«, sagt er.
»Oh, du flunkerst gerne, was? Hoffentlich gehst du mit Henriette etwas vertrauenswürdiger um.«
»Äh«, macht Kerbil. »Müssen wir dieses Gespräch führen?«
»Ich bin gerade aufmüpfig«, verkündet Henriette.
»Bist ein großes Mädchen, erinnerst mich an deine Mutter«, gluckst die Papa-Puppe. Eine deutlich teurere Variante mit eingebauten Servos würde Henriette jetzt liebkosen.
»Mama muss arbeiten«, erklärt das Mädchen. »Ich bin schon ziemlich verantwortungsbewusst, weil ich so oft alleine bin.«
»Ich bin wirklich stolz auf dich, meine Prinzessin.« Kerbil schaut nach, ob die Puppe sabbert. Das ist nicht der Fall, aber der letzte Satz klang sehr feucht.
Henriette setzt sich die Puppe auf den Schoß. »Was sollen wir spielen? Du könntest mir auch eine Geschichte erzählen.«
»Das würde ich gerne tun«, sagt Papa. »Aber leider ist mein Akku fast leer. Du solltest mich möglichst bald an eine Steckdose anschließen. Würdest du das tun, ja?«
Jetzt stöhnt Henriette, schickt eine stumme Beschwörung an die niedrige Decke. Kein kapazitativer Dämon steigt herab, um die Papa-Puppe zu erfrischen. »Ich kümmere mich um dich, sobald ich kann.«
»Auf dich kann man sich verlassen, das weiß ich. Ich schalte mich besser erst mal ab, sonst geht mir noch mitten im Satz der Strom aus. Auf Wiedersehen, Henriette. Auf Wiedersehen, Junge.«
»Auf …« Kerbil stockt, schüttelt den Kopf. Er muss sich nicht von einer Simulation verabschieden. Er muss sich um seine Mission kümmern.
Während Henriette wieder in der Frauenzeitschrift blättert, aktiviert Kerbil den Bildschirm in der Rückenlehne des Sitzes vor ihm. Es dauert eine Weile, bis alle Einschaltsponsoren ihre Produkte angepriesen haben, dann geht Kerbil auf die Homepage der Ankunftssekte.
Es handelt sich um eine Web-3D-Homepage, die hauptsächlich aus einem Tempel mit einem verglasten Kuppeldach besteht. Sonnenlicht filtert durch die Scheiben und erzeugt eine Atmosphäre wie in einem alten Bahnhof.
Auch Philip Marlowe hält sich gerne in der Grand Central Station auf, die so ähnlich aussieht wie der Tempel der Ankunftssekte.
Unter dem Kuppeldach stehen in regelmäßigen Abständen Glasvitrinen, in denen Plakate aufgehängt zu sein scheinen. Kerbil tippt mit dem Finger auf eine der Vitrinen. Die virtuelle Kamera zoomt und enthüllt, dass das Plakat einen sehr langen Text mit äußerst kleinen Buchstaben enthält. Darüber steht: »Allgemeine Geschäftsbedingungen«. Erleichtert seufzt Kerbil.
Das muss er also nicht lesen. Er tippt in eine Bildschirmecke, um zur Gesamtansicht zurückzukehren. Die nächste Vitrine, die er genauer anschaut, zeigt eine grobe Straßenkarte: die Anfahrtsskizze. Kerbil drückt einen Knopf an seiner Jacke, und die macht ein Foto.
»Riech mal«, sagt Henriette und hält Kerbil ihre Illustrierte unter die Nase, »Madame Singsang hat ein neues Schlammshampoo rausgebracht.
Wie findest du das?«
Ein großes, buntes Foto der Sängerin füllt die Seite und verbreitet einen erdigen Geruch. »Ungeeignet für Damen unter 17 Jahren, steht hier«, liest Kerbil vor.
»Das steht da? Ich dachte, die Buchstaben sind nur zur
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