Walpar Tonnraffir und der Zeigefinger Gottes (German Edition)
einen der Jünger hinterrücks überfallen und durch geschickte Fragen dazu bringen, ihm alles zu verraten. Während er diesen Plan abwägt, merkt er, dass Henriette schon die ganze Zeit versucht, ihn durch wiederholtes »Pssst!« auf sich aufmerksam zu machen. Sie hockt ein wenig entfernt hinter einem großen Pappkarton und gestikuliert. Kerbil findet, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt für Welcher-Promi-bin-ich ist und winkt ab.
»Wer bist du denn?«
Kerbil fährt zusammen. Über ihm steht ein Sektenjünger mit funkelnden Augen, Schere und Klebstreifen, bereit, zum Todesstoß auszuholen.
»Das geht dich überhaupt nichts an«, versetzt Kerbil.
Der Jünger greift sich den Arm des Jungen. »Du stehst nicht im Fahrplan.
Das ist eine Sünde, weißt du?«
Kerbil windet sich, sein Blick fällt auf den großen Pappkarton, aber Henriette ist nicht mehr da.
Ein zweiter Jünger nähert sich, er trägt einen silbernen Bart und einen Haufen Papiere unter dem Arm. »Waren da nicht zwei?« Der Kuttenträger sieht sich misstrauisch um.
»Profis arbeiten immer alleine«, behauptet Kerbil.
»So, du bist also ein Profi«, sagt der hinzugekommene Jünger. »Bei uns fängst du allerdings als Novize an, wie jeder andere auch.«
»Bei euch … anfangen?«
Der Jünger zuckt mit den Schultern, der andere zieht Kerbil auf die Beine. »Du stehst nicht im Fahrplan«, wiederholt er. »Um deine Schuld gegenüber der Göttlichen Pünktlichkeit zu tilgen, wirst du zunächst einige Kursbücher auswendig lernen.«
»Aber …«
»Am besten fängst du gleich an, dann kannst du vielleicht schon bei der nächsten Abendandacht im Chor mitmachen. Komm, wir bringen dich in deine Zelle. Dort gibt es nichts, das dich von deiner Buße ablenken kann.“Väterlich lächelnd nehmen die beiden Jünger Kerbil in die Mitte und führen ihn durchs Treppenhaus in den Keller. Neonröhren flimmern und surren, beleuchten Stahltüren mit verkratztem Lack. Kerbil hält es für wahrscheinlich, dass nachts Zombies durch die Gänge schleichen, auf der Suche nach dem richtigen Gleis.
Die Zelle ist ein kalkweißer Kubus ohne Fenster, in der sich nichts befindet, nur eine Pritsche, auf der ein Stapel augenscheinlich ziemlich alter Bücher mit roten Pappeinbänden liegt. Die Bücher sind sehr, sehr dick.
Auf dem obersten ist eine fröhliche Frau in einem Schlafanzug abgebildet. In großen Buchstaben steht darüber: Sommer 1983. Deutsche Bundesbahn.
11 Kerker der Anwaltskanzlei WeWin©, Mars
»Der Feind in Ballbesitz!«, brüllt ein Kerl, der ungepflegte Bärte für ein Zeichen von Männlichkeit zu halten scheint. »Doppeln, Forechecking und böse gucken! Bert, das geht auch böser! Roberto, auf den Mann! Das ist hier keine Seniorenanstalt!«
»Trainer«, brummt der Freistoßschütze mit der 10 auf dem Trikot, »ich glaube, der Torwart ist bewusstlos.«
»Er ist gar kein Torwart«, schiebt sich Walpar dazwischen. »Sein Name ist Zuschek.«
Der Bärtige gafft Walpar mit zuckenden Äuglein an, als bräuchte er dringend eine frische Dosis Psychobonbons. Sein Trainingsanzug spannt sich bedrohlich über Muskelpaketen, die Walpar Respekt einflößen. Lediglich die Gesundheitslatschen unterscheiden den Trainer äußerlich von seinen Spielern, die alle elektronisch geregelte Stollenschuhe tragen. »Wer ist das denn?«, zischt der Trainer. »Balljunge?«
»Weltraumdetektiv«, widerspricht Walpar und stemmt die Fäuste in die Hüften, um so was wie Autorität auszustrahlen. »Walpar Tonnraffir ist mein Name.«
»Und was machst du auf unserem Trainingsgelände, Tonni?« Der Trainer verengt die Augen zu gefährlichen Schlitzen. »Spionieren für Borussia Olympus City, gegen die wir nächsten Samstag spielen?«
»Chef«, sagt der Zehner, »Wir spielen erst Sonntag.«
»Hast du etwa Pause, Günter?«, giftet der Trainer den Spieler an.
»Nee, aber es ist ein Loch in der Mauer.«
Walpars autoritäre Pose scheint nicht zu wirken. »Was machen Sie hier eigentlich?«, fragt er.
Der Trainer beäugt ihn kritisch. »Bist du schwul?«
»Was dagegen?« Walpar hat nicht das Gefühl, als habe er irgendeinen Einfluss auf das Gespräch.
»Wir hatten mal einen schwulen Balljungen«, sagt der Trainer vage. Günter unterbricht ihn: »Chef, unser altes Trainingsgelände gefiel mir besser.«
Kurz schließt der Bärtige die Augen, seufzt demonstrativ, dann: »Günter. Tu mir einen Gefallen, ja? Baller von mir aus noch ein paar Löcher in die Mauer. Hauptsache, wir gewinnen Samstag gegen
Weitere Kostenlose Bücher