Walpurgistag
der Dichter Erich Mühsam, damals schon nicht mehr jung, ein großer, nicht sehr kräftiger Mann mit einem rötlichen Vollbart, der als Einziger einen fast einen Meter breiten Handkoffer mit sich trug. Der Koffer war schwer, denn es waren ausschließlich Bücher darin.
Es war nicht sein erster Gefängnisaufenthalt. Neun Jahre zuvor war er aus dem Zuchthaus Niederschönenfeld entlassen worden, in dem er wegen seiner Teilnahme an der Münchner Räterepublik eingesessen hatte. Damals hatte er im Zuchthaus noch lesen dürfen und einiges geschrieben. Joseph Goebbels hatte ihn, das war noch nicht lange her, als jüdischen Wühler bezeichnet, mit dem man kurzen Prozess machen werde, wenn die NSDAP erst an der Macht sei. Die NSDAP war jetzt an der Macht.
»Mühsam, wie der Name schon sagt«, schrie der Obersturmbannführer, »das wird ein weiter Weg bis ans Ende der Stadt. « Dann schlug er zu. Mitten ins Gesicht. Die anderen Gefangenen hielten den Kopf gesenkt. Dann setzte sich der Zug in Bewegung . Da fehlt noch ein Satz. Mühsam blutete aus der Nase, schreibt Viola. Ihm gelang es nicht, Schritt zu halten, er stolperte, fiel, stand auf, fiel wieder. Das führte dazu, dass er zurückblieb und von den SA-Leuten ins Glied geschlagen und getreten wurde . Blut spritzte auf den Mantel des Vordermannes . Zu viel Blut. Sie streicht das erste Nasenblut wieder.
» Was ist der Mensch? Ein Magen, zwei Arme, lein kleines Hirn und ein großer Mund, lund eine Seele dass Gott erbarme!/ was muss der Mensch? Muss schlafen und denken, /muss essen und feilschen und Karren lenken, / muss wuchern mit seinem halben Pfund. /Muss beten und lieben und fluchen und hassen, I muss hoffen und muss sein Glück verpassen – /und leiden wie ein geschundner Hund. «
Mühsam war jetzt selbst dieser geschundene Hund. Einer der Mitgefangenen konnte das, obwohl er sich bewusst sein musste, was das bedeutete, nicht mit ansehen – Ist das so gut mit dem Spannsatz? Ich setz mal ein Fragezeichen.
Ernst Schneller , ein auch schon zweiundvierzigjähriger, aber im Arbeitersportverein Fichte gut durchtrainierter Mensch. Ohne einen Ton zu sagen, drehte er sich um, ging zu Mühsam und nahm den Koffer. Er trug ihn wie ein Gepäckträger auf der Schulter und schloss leichtfüßig, fast tänzelnd, zu seinen Genossen auf. Das aber ließen die SA-Leute nicht zu. Sie brüllten: »Wirst du mal dem Itzig den Koffer wiedergeben?« Aber Schneller tänzelte jetzt erst recht mit dem Koffer vor den SA-Leuten hin und her, bis sie ihn niederrangen und mit Tritten und Schlägen traktierten.
Mühsam starb in der Nacht vom 9. auf den 10. Juli 1934, aufgehängt in einem Abort des Konzentrationslagers Oranienburg . Drei Tage zuvor war das Lager von der SS übernommen worden, die SA war am I. Juli mit dem Mord an Röhm entmachtet worden. »Wenn jemand behauptet, ich hätte Selbstmord begangen, dann glaubt es nicht«, hatte Mühsam noch einen Tag vor seinem Tod gesagt. Schneller wurde 1944 von der SS in Sachsenhausen ermordet. Im Leben
davor wären sie, wenn sie sich gekannt hätten, wohl erbitterte Feinde gewesen. Schneller hatte Rosa Luxemburg 1925 rückblickend als Trotzkistin beschimpft, was historisch völliger Blödsinn war, aber den Stalinisten durchaus in den Kram passte.
Das Ende gefällt Viola Karstädt noch nicht. Da muss sie noch mal ran. Aber nicht jetzt, denn aus dem Lautsprecher tönt Jonas’ Name, und Mutter und Sohn packen ihe Sachen zusammen und gehe in den Vorbereitungsraum.
13.17 Uhr
Arbeitsamtskundin Nummer 127 wird aufgerufen
»Nr. 127 – Platz I.« Das Nummerndisplay blinkt. 127 zu Platz 1. Ein Klingeln wie eine Drohung. Katrin Manzke kramt in ihren Sachen. Sie sitzt am anderen Ende des Ganges und hat einen langen Weg. Wenn sie überhaupt 127 ist, was sie aber annimmt. 1, 2, 7. Geburtstag ihres geschiedenen Mannes. Sie schaut unter den Sitz, auf das Fensterbrett, die kleine Ablage, auf der eine Menge Werbung liegt. Alle Papiere geht sie durch, aber der Abschnitt mit der Nummer ist nicht zu finden. Die wollen den immer sehen, beim letzten Mal war es auch so. Das Klingeln kommt noch mal. »Nr. 127 – Platz 1.« Katrin Manzke schaut sich um, niemand ist auf den Gong hin losgegangen zu Platz 1. Also kramt sie ihre Sachen zusammen und macht sich auf den Weg. Den ganzen langen Flur entlang und dann noch mal um die Ecke, zwanzig Meter, schätzt sie. Das dürften dreißig Schritte sein. Klack, klack, klack machen ihre Schuhe auf dem Fußboden, bei Schritt
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