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Walpurgistag

Walpurgistag

Titel: Walpurgistag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annett Groeschner
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alt bist du?« Jonas steht langsam auf und geht schwankend in Richtung Toilette. Nicht, dass er richtig krank wird, das fehlte mir gerade noch.
    Bei aller Willkür gab es am Alexanderplatz doch noch so etwas wie Regeln. Eine Gefängnisordnung beispielsweise, die die bürgerlichen Rechte wenigstens auf dem Papier wahrte und die am Alexanderplatz Anfang März 1933 noch nicht außer Kraft war . Da muss ich aufpassen, dass sie mir im Lektorat aus dem ersten »die« nicht ein »welche« machen. Ein Paragraph wie der des 341 Strafgesetzbuch, der Freiheitsberaubung durch Beamte unter Strafe stellte, wurde immer wieder gern und lautstark von den verhafteten Rechtsanwälten deklamiert, wenn die Zelle aufging und ein Nächster ohne gültigen Haftbefehl hereingestoßen wurde. Eine Schutzhaft war selbst nach der
Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutze des Deutschen Volkes vom 4. Februar 1933 widerrechtlich. Daran klammerten sich nun die Gefangenen, auch wenn sie bis dato der bürgerlichen Ordnung zumeist mit einiger Skepsis, wenn nicht gar Feindseligkeit gegenübergestanden hatten. Gestern hatte man diese Bürokraten noch verspottet. Aber nach und nach übernahmen SA-Leute die Befehlsgewalt, meist junge Burschen mit groben Gesichtern. Die Zellen füllten sich, bis die in Gewahrsam Genommenen sich zu zweit eine Pritsche teilen mussten. Sie wussten gar nicht, dass sie so viele waren.
    Nach einigen Tagen, die meisten hatten das Gefühl für Zeit längst verloren, wurden die widerrechtlich in Gewahrsam Genommenen in andere Gefängnisse expediert. In Spandau gab es zu dieser Zeit einen Gefängnisdirektor, der kurz vor der Pensionierung stand. Er holte die fünfzig Gefangenen, die ihm aus dem Polizeipräsidium Alexanderplatz überstellt worden waren, zusammen und hielt eine Rede, deren Tenor war, dass er ein Bedauern über die Situation, seiner wie ihrer, nicht verhehlen könne. Er habe überhaupt keine Unterlagen über die Dinge, die sie sich hätten zuschulden kommen lassen, und somit eigentlich auch keine Handhabe, sie festzuhalten. Normalerweise kämen mit jedem Gefangenen auch gleich die Papiere, aus denen hervorginge , Konjunktiv lassen? Ja!, warum er in Gewahrsam genommen worden sei. Nicht einer der fünfzig in dem Raum Versammelten hatte auch den Grund mitgeliefert bekommen. Für ihn seien sie so lange keine Gefangenen, bis nicht die formale Grundlage für einen Einbehalt geliefert werden würde. Was in seinen Kräften stünde, wolle er tun, um ihnen diesen Aufenthalt so angenehm wie möglich zu machen. Wenn nicht innerhalb der nächsten Tage Anklage gegen jeden Einzelnen erhoben oder wenigstens ein Haftbefehl nachgeliefert würde, so werde er sie entlassen.
    Nach einer Woche löste der Gefängnisdirektor sein Versprechen ein. Er entließ nicht alle auf einmal, nein, auch da hielt er sich an die Regeln, er entledigte sich, damit kein Chaos aufkam, Woche für Woche eines Buchstabens. Die Gefangenen mit Namen ab der Mitte des Alphabets machten sich keine Illusionen. Bald würde die Gestapo, die wahrscheinlich annahm, dass keiner der verbliebenen Beamten
sich trauen würde, gegen sie aufzubegehren, dahinterkommen. Es war dann schon beim Buchstaben E der Fall, aber die von A bis D waren entkommen – allerdings nur, wenn sie nicht erst zu Hause nach dem Rechten sahen oder gar Genossen in ihren Wohnungen aufsuchten, sondern sich schleunigst unsichtbar machten. In der Woche E mussten die restlichen Gefangenen antreten. Sie hatten fünfzehn Minuten Zeit, ihre Sachen zu packen. Der Gefängnisdirektor weinte seinen Gefangenen eine Träne nach. Eine Woche später wurde er pensioniert.
    Wo bleibt Jonas? Nicht dass der in der Toilette umgefallen ist. Ich bin doch echt manchmal wie meine Mutter. Kranksein gibt’s nicht bei den Preußen. Viola legt Stift und Manuskript beiseite und will gerade aufstehen, da kommt Jonas zurück. Blass sieht er aus und lang aufgeschossen. »Alles in Ordnung?« Ihr Sohn nickt. Seine Wangen sind heiß. Viola nimmt die Blätter wieder auf.
    Irgendwo wurde umrangiert und der Wagen an einen anderen Zug gehängt, der sogleich in die entgegengesetzte Richtung abfuhr. Eine lange Zeit später hielten sie wieder. Erneut wurden ihre Wagen abgekoppelt, und der restliche Zug entfernte sich mit einem lang gezogenen Pfeifen. Ein neuer kam nicht mehr. Die Gefangenen waren angekommen, aber wo, das wussten sie nicht. Sie mussten im Mittelgang des Waggons antreten. Es war vorläufig nichts zu sehen.
    Sonnenburg, sagte

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