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Walpurgistag

Walpurgistag

Titel: Walpurgistag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annett Groeschner
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verging, desto weniger Regeln, die zumindest auf dem Papier an gewisse bürgerliche Rechte gekoppelt waren, galten noch für sie.
    »Marcel Mayer bitte, Marcel Mayer in den Vorbereitungsraum. « Marcel, ein vielleicht zehnjähriger, dickfellig wirkender Junge, steht sehr langsam auf und geht durch das Wartezimmer in den Vorbereitungsraum. Seine ebenso korpulente Mutter folgt ihm wie ein überladener Wagen, dessen Räder unter der Last der Ladung schräg stehen und die Achsen gleich brechen, denkt Viola Karstädt und wendet sich wieder ihrem Manuskript zu.
    Die Insassen des fensterlosen Gefangenenwagens versuchten vergebens, an den Bahnhöfen aus den in Fetzen ankommenden Ansagen der Bahnhofsvorsteher den jeweiligen Stationsnamen herauszufiltern. Alles wurde, von Minute zu Minute und je weiter sie sich von der Heimat entfernten, ungewisser. Wie angenehm kam ihnen inzwischen die Erinnerung an die Sammelzelle des Polizeipräsidiums am
Alexanderplatz vor, wo sie sich nach ihrer Verhaftung in der Nacht vom 27. auf den 28. Februar, der Reichstag war eine schwelende Ruine, wiedergefunden hatten.
    »Viola, wie lange dauert das noch?« – »Drei sind noch vor uns. Leg deinen Kopf an meine Schulter und schlaf ein bisschen, ich muss den Text hier noch zu Ende korrigieren, sonst haben wir nächsten Monat nichts zu essen.« – »Hab sowieso keinen Hunger.«
    Die meisten Gefangenen kannten sich, einige waren politisch verfeindet, obwohl sie ein und derselben Partei angehörten oder ihr zumindest nahegestanden hatten. Auch waren solche dabei, die aus deren Reihen entfernt worden waren, weil andere, die jetzt mit in der Zelle saßen, dafür gesorgt hatten. Das zählte vorerst nicht mehr. Man musste sich arrangieren, aber einige dachten insgeheim, dass genau dieser Zwist der Grund war, warum sie jetzt hier saßen.
    Man kann im Nachhinein nicht sagen, dass die Stimmung am Alexanderplatz in jenen Nächten nach dem Reichstagsbrand schlecht gewesen wäre. Wäre »sei« nicht besser? Nein, das kommt mit der Zeitform nicht hin. Die meisten kannten das Gebäude von innen. Einige hatten als Sitzredakteure ihre Zeit hier verbracht , »Sitzredakteur« ist so ein schönes Wort, ich werde mich hüten, das zu erklären. Müssen sie eben im Internet nachschauen, wenn sie’s nicht wissen, oder waren nach verbotenen Demonstrationen verhaftet und in den Zellen entlang der Dircksenstraße in Gewahrsam gehalten worden. Manche waren so oft hier gewesen, dass sie die Namen der Wärter kannten. Die leitenden Beamten der politischen Polizei, die einzig in der Lage gewesen wären, sie aus dieser misslichen Lage zu befreien, waren seit einigen Tagen zwangsbeurlaubt und durch Nationalsozialisten der ersten Stunde ersetzt, »ersetzt« oder »ersetzt worden«? Ohne das Hilfsverb klingt es besser. Oder? Ich lass das jetzt mal so. Die Versammelten einte nur, dass sämtliche in Gewahrsam Genommene links von den Nazis standen, deren Machtergreifung sie immer noch für einen bald vergehenden Spuk hielten.
    Hätten manche der Gefangenen auch nur geahnt, was sie erwartete, sie hätten spätestens am 30. Januar 1933 ihre Papiere und das
Notwendigste zusammengepackt und Deutschland in Richtung Westen verlassen, denn die andere Himmelsrichtung hätte für viele eine noch viel schlimmere Hölle bereitgehalten: Verrat unter Freunden und Demütigungen durch Verbündete . Das wird den Stalinisten gar nicht gefallen, aber das ist mir egal.
    Bis auf die bald nach der Machtergreifung ausgebürgerten prominenten Schriftsteller und Journalisten hatten die meisten Gegner der Nationalsozialisten eine schnelle Emigration versäumt oder waren auf der Flucht in Gewahrsam genommen worden. Manche hatten nach den ersten Gerüchten von anstehenden Massenverhaftungen die Wohnung gewechselt und unerkannt in der Anonymität der Großstadt gelebt. Nachdem ein paar Tage lang nichts passiert war, hatten sie ihre Befürchtungen, aus denen heraus sie ihr bürgerliches Leben aufgegeben hatten, als maßlos übertrieben empfunden und waren in ihre Wohnungen zurückgekehrt.
    Nun standen sie wie alle anderen in der Sammelzelle im Kellergeschoß, Geschoss wird jetzt mit Doppel-S geschrieben. Neue Rechtschreibung, stand in den Korrekturanweisungen des Verlags, des Polizeipräsidiums, wo eine durchgehende und zu einem Rechteck angeordnete Pritsche mindestens fünfzig Männern zum Schlafen dienen sollte.
    »Ich muss mal.« – »Dann geh doch, weißt doch, wo es ist.« – »Kommst du mit?« – »Wie

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