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Walpurgistag

Walpurgistag

Titel: Walpurgistag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annett Groeschner
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jemand . Soll sie den Namen des Ortes in Anführungszeichen setzen? Schließlich ist es eine wörtliche Rede. Besser ist es. » Sonnenburg«, sagte jemand. Der Name pflanzte sich fort durch den ganzen Zug. Fünfzehn Kilometer ist Sonnenburg von Küstrin entfernt, an der warthe gelegen, die man riechen kann, wenn der Wind von Westen kommt. Kein Dorf dazwischen, ein Flussdelta nur . Irgendwo hat sie gelesen, dass es kürzlich in die Liste bedeutender europäischer Vogelschutzgebiete aufgenommen worden ist.
    Am anderen Ende des Ortes befand sich 1933 die Königlich Preußische Strafanstalt. Hundert Jahre zuvor gegründet und seit einem jahr wegen Rattenbefalls, gegen den kein Gift half, geschlossen. »Ratten zu Ratten«, hatte der Preußische Ministerpräsident Göring gesagt und die Sonnenburg unter Aufsicht des Berliner Polizeipräsidiums wieder in Betrieb nehmen lassen.

    Es klingelt im Wartezimmer. Kurze Zeit später ertönt ein Summen, und eine sehr blonde, sehr junge Mutter schiebt einen Rollstuhl in den Vorraum der Praxis. Sie betätigt die Bremse und lässt den Rollstuhl stehen, um ins Wartezimmer zu gehen. Der Junge im Rollstuhl bewegt den Kopf unkontrolliert. Seine Augen irren im Raum umher, manchmal verschwinden die Pupillen unter den Lidern und nur das Weiße des Augapfels ist zu sehen. Er lacht, als seine Mutter zurückkommt. »Na, David, die Frau Doktor hat heute viel zu tun.« Jonas flüstert: » Was hat der?« – »Ich schätze, eine Muskelkrankheit.« – »Krass«, flüstert Jonas. »Guck da nicht so hin«, sagt Viola und schaut schon wieder auf ihr Manuskript. Mit routinierten Bewegungen zieht die Blonde ihrem Sohn die Jacke aus. Jonas beobachtet fasziniert die Gesten des Jungen.
    Sie waren die Ersten, die ankamen. Das Wort Sonne würde später für die Überlebenden gleichbedeutend mit schlimmster Dunkelheit sein.
    Die Gefangenen, die bisher noch nichts sehen konnten, hörten neben Rufen, die nach denen von Viehtreibern klangen, klatschende Geräusche und Schreie, die nicht von Tieren kamen. Sie wussten inzwischen, was sie nicht wahrhaben wollten, das Vieh waren sie und dass sie, in einer Reihe aufgestellt, im nächsten Moment schreiend durch ein Prügelspalier würden laufen müssen. Und so war es auch. Sie fielen mitten hinein in die dicht an dicht stehenden Reihen von Uniformträgern mit blassen Märzgesichtern, die sich zur Grimasse verzogen, wenn sie die Gummiknüppel hoben und mit voller Wucht niedersausen ließen. Das Spalier ging vom zweiten Gleis, auf dem der Zug zum Halten gekommen war, über den Schotter des Gleisbettes bis zum Bahnsteig eins neben dem Bahnhofsgebäude. Ein unendlich langer Hohlweg, an manchen Stellen so eng, dass die Gefangenen zu beiden Seiten die warmen Körper der Uniformierten spürten, die nach dem Schweiß harter körperlicher Arbeit rochen.
    Sie wurden durch die Schalterhalle des Bahnhofsgebäudes bis zum Bahnhofsvorplatz getrieben. Die Leute, die an den Fahrkartenschaltern warteten, schauten nach unten oder drehten sich ganz weg. Nur
ein Kind fragte laut: » Was ist mit den Männern?« – »Die sind böse«, erwiderte ein SA-Mann und gab der Mutter unwirsch ein Zeichen, ihr Kind zu nehmen und zu verschwinden.
    Draußen auf dem Bahnhofsvorplatz übergab der Transportführer dem Obersturmbannführer eine Liste aller bis hierher transportierten Gefangenen, die der quittieren musste. Zweiundfünfzig waren sie, so hörte es der den beiden Uniformierten am nächsten stehende Gefangene und gab die Zahl nach hinten weiter. Einer nach dem anderen musste, nachdem sein Name aufgerufen worden war, vortreten und dann nach links abgehen. Drei aber, deren Namen mit B, M und T anfingen, wurden nicht genannt, obwohl ihr Buchstabe schon längst auf der Liste abgehakt worden war. Sie blieben als Letzte stehen, lose verteilt auf dem Platz, der mit B am nächsten zu dem Zug der Gefangenen, der mit M weitab unter der zart knospenden Linde stehend, einen großen Koffer hinter sich. Sie konnten sich denken, was hier gespielt wurde. Es war plötzlich sehr still auf dem Platz, auch die Lokomotive, die eben noch gepfiffen hatte, schwieg. Nur eine Amsel in der Linde ließ sich nicht stören.
    »Na, unsere drei Itzigs wollen wohl nicht, was?«, unterbrach der Obersturmbannführer höhnisch das Schweigen. »Habt ihr nicht zugehört wie die anderen? Könnt wohl nur die Judensprache?« Sie wurden von jeweils drei SA-Männern ans Ende des Zuges geprügelt.
    Einer der jüdischen Gefangenen war

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