Walpurgistag
Rede, da löscht auch schon ein Feuerwehrmann das Feuer. »Arschloch«, zischt Viola Karstädt, aber nicht zu laut, denn sie hat keine Lust, verhaftet zu werden. Die Stimme kenne ich wirklich, denkt Hosch, und war da nicht eine Corona um einen Helm aus blondem Haar? Dann schließt er die Augen, um der Stimme zu folgen. Ihr Singsang schafft feine Linien in Hoschs Kopf, die sich auf- und abbewegen und ihn einen Moment lang den Schmerz im Kopf vergessen lassen.
23.18 Uhr
Hosch wird überraschend Vater, und Viola Karstädt führt ihn um die Ecke
Er sei doch der Vater ihres Kindes, sagt Viola Karstädt in der letzten Glut des von Amts wegen gelöschten Feuers. Es dauert eine Weile, ehe Hosch begreift, dass sie ihn meint, ihn und keinen anderen. Sie ist es wirklich – sein One-Night-Stand in Ostberlin. Ihm wird heiß, und der Schmerz im Kopf pocht noch stärker. Jetzt erfahre sie ja endlich mal seinen Namen. Sein Sohn jedenfalls heiße Jonas, den Namen habe sie damals als angemessen empfunden. Hosch sieht sie mit offenem Mund an, und sie muss lachen, genauso habe sie ihn in Erinnerung, und auch das Kind, Jonas, sitze manchmal so da und werde aufgefordert, die Fliegen nicht in den Mund zu lassen. »Viola?«, fragt er vorsichtig, als könne sie auf einen anderen Namen hören und er sich noch mehr blamieren. Genau, Viola heiße sie. Er sagt nichts mehr, nimmt nur wahr, dass die anderen am Feuer ihn amüsiert beobachten. »Ja, so schnell kann det jehn«, sagt eine alte Frau, ihr Alter habe seinen Samen auch überall verstreut. Die Kinder seien aber alle schon tot. Es hört sich an, als habe sie selbst nachgeholfen.
Besser wäre es, er würde jetzt sofort mitkommen, flüstert Viola, es sei nicht weit bis zu ihrer Wohnung, genau genommen gleich um die Ecke in der Oderberger, gegenüber dem Stadtbad. Sie steht auf und dreht sich um. Er folgt ihr widerspruchslos, im Rücken spürt er das Grinsen der anderen. Da geht er, so ein Trottel! Im Hintergrund sind die Sirenen mehrerer Polizeiwagen zu hören.
Sie kämpfen sich durch die Menge, die ihnen entgegenströmt und sich per Handy vielstimmige Anweisungen über Treffpunkte, Ereignisse und Kampflinien gibt. Beinahe hätte Hosch Viola aus den Augen verloren, aber sie wartet an der Oderquelle auf ihn, wo das Gedränge noch nicht so dicht ist.
Hosch ist beklommen zumute. Warum passiert jahrelang nichts, »und dann genügt ein Tag, um alles aus den Fugen geraten zu lassen«?
»C’est la vie«, sagt Viola, und erst jetzt bemerkt Hosch, dass er den Satz laut vor sich hin gesprochen hat. Sie habe zwar zehn Semester mit Philosophie verbracht, aber den eigentlichen Mysterien des Lebens komme man mit diesem Gewerk nicht ein Stück näher und mit dem dialektischen und historischen Materialismus, diesem Bastard der Philosophie, dem ihr Fachbereich verpflichtet gewesen sei, schon gar nicht. Man könne mit all diesem toten Wissen noch nicht einmal eine halbwegs gesicherte Existenz betreiben.
Hosch schaut sie von der Seite an und ist erstaunt, wie wenig sie sich verändert zu haben scheint, sieht man mal von der leichten Fülle ab, die ihren Körper umgibt wie eine Schutzschicht. Hosch hätte sie jetzt gerne angefasst, um zu wissen, ob sie echt ist, aber ihn schmerzt jede Berührung. Vielleicht reicht es auch, sich die Augen zu reiben. Oder hängt er immer noch am Tropf und träumt sonderbare Sachen? Ein Kind!
Sie habe nicht nach ihm gesucht, sagt sie, weil sie seinen Namen noch in derselben Nacht vergessen hätte, sie habe ein scheußliches Namensgedächtnis. Sie könne sich noch nicht einmal an den Namen der Familie erinnern, bei der sie die letzte Nacht verbracht habe, aber halt, es sei irgendeine Eismarke gewesen, wahrscheinlich hatten sie Langnese geheißen. Ob das wohl von Langnase komme? Aber sie wolle ihn nicht langweilen mit ihren Abschweifungen. Sie erhebe keinen Anspruch auf Alimente für die vergangenen fünfzehn Jahre, allerdings werde sie sich auch das Sorgerecht nicht mit ihm teilen, um es gleich zu sagen. Sie sei damals schon sehr direkt gewesen, sagt Hosch, er habe das noch sehr gut in Erinnerung, wie sie ihn in ihre Wohnung geschoben habe. Ob sie ihn so genau kenne, dass sie sich sicher sein könne, er werde den Spieß nicht umdrehen und sie wegen sexueller Nötigung anzeigen? Sie schaut ihn aus ihren schräg stehenden Augen an und sagt lächelnd, sie habe damals gedacht, Westberliner Anfang
zwanzig hätten den Spruch, wer zweimal mit demselben pennt, der gehört schon
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