Walpurgistag
eingetroffen, der Kutsche entstieg, betrat ein Wolf im Schafspelz die Residenzstadt.< Das hat er gesagt.« – »Tut mir echt leid. Ich habe meine Erinnerung verloren.« – »Wie, und du weißt
nicht mal mehr, dass du in den Westen abgehauen bist? Ohne Vorwarnung. Bist einfach nicht mehr wiedergekommen, obwohl du am Tag zuvor zur Agitatorin gewählt worden warst. Angeblich hattest du gar keinen Ausreiseantrag gestellt, dich aber an einem Morgen aus Westberlin gemeldet. Und niemand wusste, wie du das geschafft hast. Deswegen waren sie doch so sauer und haben jeden von uns in die Keibelstraße einberufen, ins Polizeipräsidium, so mit Scheinwerfern und Schildern: >Nicht stören, Verhör<, und Fenstern mit Blick auf das Gefängnis, und Drohung, das Studium nicht beenden zu können, wenn wir nicht sagen, was wir wissen. Zum Glück wussten wir nichts.« – »Hey, jetzt erinnere ich mich.« Ilona springt vor Freude einen halben Meter in die Luft. »Das stimmt, ich bin aus Versehen in den Westen. Ich hatte nicht mal einen frischen Schlüpfer dabei. Seltsam, warum fällt mir das ausgerechnet jetzt ein? Ich war in meiner Stammkneipe in der Tieck Ecke Schießmichtot.« – »Borsigeck«, mischt sich Heike ein. »Daher kenne ich dich, da war ich auch oft.« Ilona kneift die Augen zusammen, als helfe das ihrer Erinnerung auf die Sprünge. »O. k., ich hab mich gestritten, mit meinem Geliebten, und mein Mann war, keine Ahnung, wo, egal. Wie war überhaupt mein Nachname?« – »Kaufmann.« – »Angeheiratet?« Die beiden Frauen zucken die Schultern. »Oder vielleicht war es auch umgekehrt, der Geliebte in seiner Wohnung und mein Mann in der Kneipe? Ich war bestimmt betrunken. Ich war gut im Trinken, das ist so eine Erinnerung, ich sitz als Kind hinter dem Tresen auf dem Fußboden und probiere jede Flasche durch, vor allem die bunten.« – »Vielleicht deshalb die Amnesie«, sagt Heike. »Quatsch, sie wurde bei dem Überfall geschlagen«, mischt Hosch sich ein. » Warst du dabei?« – »Sieht man das nicht?« – »Ja, aber weiter, was war mit der Mauer?«, fragt Viola. »Ich muss schnurstracks in Richtung Nordbahnhof gelaufen sein und bin da einfach aus Wut über ein, zwei Zäune und war drüben.« – »Glaub ich nicht, das hättest du 1986 nicht mehr geschafft. Da war die Berliner Grenze vollkommen dicht. Man musste da Tausende Kilometer nach Bulgarien oder Ungarn, um am Ende zwanzig Meter weiter in Westberlin
zu wohnen.« – »Du, ich hab’s vergessen, echt. Ich war nicht stolz darauf, ich war einfach nur entsetzt, dass ich so besoffen sein konnte. Eigentlich wollte ich gar nicht in den Westen.«
Hosch hört nicht mehr zu, weil er Viola anstarrt, als leide auch er unter Amnesie, sei aber bemüht, sie zu überwinden. Die beiden Frauen wenden sich von Ilona ab, Viola sagt etwas mit vorwurfsvoller Stimme zu Heike, sie tuscheln und werfen verstohlene Blicke zu Ilona hinüber, das ist es, so glaubt sich Ilona zu erinnern, was sie schon immer an Frauen gehasst hat.
Und so ist sie jetzt wieder allein mit ihren zwei Namen und den Erinnerungen, die seit einigen Minuten aus einer bisher verschlossenen Quelle im Gehirn sprudeln, und Ilona muss sich den Kopf festhalten, damit er nicht zerspringt.
23.08 Uhr
Aki gibt den jugendlichen Liebhaber
»Guten Tag«, sagt Aki zu Katrin Manzke. »Darf ich Sie tragen? Wissen Sie, ich mag Hexen, da, wo ich herkomme, gibt es viele. Hexentragen soll Glück bringen.« – »Das habe ich ja noch nie gehört, ich denke, Hexen werden nur verbrannt. Woher kommen Sie denn?«, fragt Katrin. »Och«, sagt Aki, »ich bin Inder, habe aber schon vor Jahrhunderten Indien verlassen, und seitdem fahre ich durch die Welt. Und gerade bin ich in Berlin angekommen. Nun, vielleicht nur einen Moment zur Probe?« Katrin Manzke ist etwas skeptisch, wenn auch nicht ganz abgeneigt. Warum soll sie sich denn auch nicht mal auf Händen tragen lassen. Macht ja sonst keiner. »O. k.«, sagt sie, »aber wenn ich stopp sage, meine ich stopp.« Aki spuckt in die Hände, gibt die Anweisung: »Ganz gerade und steif machen«, dann hebt er sie elegant wie ein Paarläufer seine Partnerin hoch und läuft mit ihr über die Wiese des Mauerparks, von der Eberswalder zum Stadionzaun, von dort aus einmal in Ost-West-Richtung bis zum Weddinger Zaun und dann bis zum Gleimtunnel. Die Leute an den Feuern applaudieren. Von hier oben kann Katrin alles erkennen, die als Hexen verkleideten Mütter mit ihren halbwüchsigen Kindern, die zarten
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