Walpurgistag
und eilt zurück in Jonas’ Zimmer. Was denn hier los sei, fragt das verschlafene Kind, und warum ein wildfremder Mann neben seinem Bett liege. Viola Karstädt sagt: »Erklär ich dir später«, er solle versuchen, ihn zu beatmen, das könne er doch, und als der Junge zögert, fügt sie hinzu, er solle sich nicht so haben, das sei schließlich sein Vater, Hosch heiße der und sei ganz nett, sie habe ihn eben da draußen aufgegabelt, aber wenn er stürbe, könne er, Jonas, das nie selbst erfahren, also legt der Knabe, nachdem er sich gefragt hat, was Hosch denn für ein komischer Name sei, den Mann auf den Rücken und fängt an mit der Mund-zu-Mund-Beatmung, wie er es im Erste-Hilfe-Kurs gelernt hat, bis zwei Krankenträger den Posten übernehmen und der Junge wie bestellt und nicht abgeholt im Türrahmen stehen bleibt. Der Fahrer fragt Viola, ob sie die Partnerin sei. Sie nickt. Diesmal würde sie den Vater ihres Sohnes nicht verlieren. Als die Träger, Hosch horizontal in der Mitte, die Wohnung verlassen, schreibt sie vorsorglich die Angaben aus Hoschs Ausweis ab, den sie zielsicher in seiner Lederjacke ausmacht. Dann gibt sie ihrem Sohn einen Kuss, ermahnt ihn, die Wohnung unter keinen Umständen zu verlassen, sie werde nachher noch mal kommen und Fieber messen, und steigt die vier Treppen hinunter und in den Krankenwagen.
Das Blaulicht streicht gespenstisch über die poröse Mauer des Stadtbades, auf dessen Stufen Annja Kobe sitzt und zusieht, wie der Mann, der eben noch neben ihr beim Feuer war, auf einer Trage in den Krankenwagen geladen wird, und die Frau, die am Zusteigen gehindert werden soll, behauptet, seine Frau zu sein, und einsteigen darf. Als der Wagen mit Blaulicht und Martinshorn links in die Choriner Straße einbiegt und in nun schon beachtlichem Tempo über die Kreuzung der Schönhauser Allee prescht, packt ein Polizist Annja hart an der Schulter und sagt: »Kann ich mal Ihren Ausweis sehen?«
23.35 Uhr
Anpfiff des Kampfes an der Eberswalder / Bernauer Straße
»Die Nachrichten sind zu Ende, und wir melden uns von der Direktübertragung der alljährlich stattfindenden Walpurgisnachtspiele in Berlin, Hauptstadt der Deutschen ... ääh, Bundesrepublik Deutschland. Am Mikrofon begrüßt Sie Hubert Knobloch. Zugeschaltet ist uns Gottfried Weise im Berliner Stadtteil Kreuzberg. – Gottfried, wir haben ja schon in den frühen Abendstunden von musikbegleiteten Aufmärschen der Kombattanten am Oranienplatz und der Plünderung eines Supermarktes berichtet, wie sieht es im Moment aus? – Ja, mein lieber Hubert Knobloch, die Kämpfe hier sind so gut wie beendet, nur am Heinrichplatz sind noch einige Grüne in ihren Panzerwagen und Wasserwerfern zu sehen, während sich die gegnerische Mannschaft geschlossen in Richtung Friedrichshain / Prenzlauer Berg aufgemacht hat. Ich schätze, mangels Kämpfer wird das Gefecht hier wohl erst morgen weitergehen. – Danke, Gottfried Weise. Wir schalten weiter zu Wolfgang Hempel am Boxhagener Platz in Friedrichshain. – Wolfgang, es handelt sich in diesem Jahr um einen neuen Schauplatz. Wie ist die Stimmung? – Die Stimmung ist gut, Hubert, eben konnte ich mit dem Kapitän des Schwarzen Blocks ein paar Worte wechseln. Sie sind alle gut trainiert, ein paar Kämpfer machen sich neben dem Klohäuschen warm, leere Flaschen werden eingesammelt, die eine oder andere schwarze Kapuze macht sich an den Tankstutzen älterer Autos zu scharfen. – Wir haben gehört, es habe bei Ihnen ein Deeskalationsfest gegeben. – Ja, auf dem Boxhagener Platz ist es auch noch in vollem Gange. Ich sehe ein Lagerfeuer, zwei Jongleure und fünf Trommelanfängerinnen, die sich bemühen, den Rhythmus zu halten, was der guten Stimmung aber keinen Abbruch tut. – Gibt es schon Schäden zu beklagen? – Nein, Hubert, die Verglasung der
Bushaltestelle hier am Platz ist noch intakt, wenn ich das von unserem Übertragungswagen aus richtig sehe, auch die Grünanlagen sind bis auf ein paar Verunreinigungen durch Müll und Urin noch in frischem, frühlingshaftem Grün. Grüne sind nicht zu sehen, was die Schwarzen hier noch abwarten lässt. Offenbar haben wir es hier aber nur mit der Regionalliga und Teilen der Kinder- und Jugendliga der Schwarzen zu tun. Ich gebe weiter zu Waldefried Forkefeld im Übertragungswagen am Mauerpark zwischen Wedding und Prenzlauer Berg. – Wie sieht es bei Ihnen aus, Waldefried? – Vom Ort des Geschehens begrüßt sie Waldefried Forkefeld. Wie Sie vielleicht schon gehört
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