Walpurgistag
zum Establishment, von ihren Junglehrern in der Schule gelernt. Und da die infrage kommenden Frauen im Westen schwer feministisch, also eher abweisend gewesen seien zu dieser Zeit, mussten die Kerle eben in den Osten gehen. Und die meisten Ostfrauen, nicht auf den Kopf gefallen – von wegen leicht zu haben und ebenso leicht zu entsorgen –, hätten sich mit fadenscheinigen Tricks, wie dem, ihnen würde ja Verfolgung und Gefängnis drohen aufgrund von geschlechtlichen Beziehungen zum Klassenfeind, von ihren Beischläfern pro forma in den Westen heiraten lassen, auch von solchen Männern, die nie hätten heiraten wollen. Da könne er eigentlich höllisch froh sein, dass es dazu nicht gekommen sei. Sie habe nicht in den Westen gewollt, sie habe nur ihren Spaß gebraucht. Und er habe sich ja offenbar damals auch nicht gerade gelangweilt. Und soweit sie sich erinnere, habe er nicht nach der Pille gefragt und keine Kondome benutzt. Also, was wolle er? Das mit dem Establishment sei eine dieser Legenden gewesen, die vielleicht die Generation vor ihm betroffen hätte, aber seine ganz sicher nicht, sagt Hosch. Die Wirklichkeit habe anders ausgesehen, er sei schüchtern gewesen. In ihrem Fall könne sie sich nicht dran erinnern, erwidert Viola, aber er solle ruhig dabei bleiben, es sei eh alles gelaufen und sein Nachteil gering.
Hosch ist plötzlich sehr müde und hat keine Lust, sich mit ihr zu streiten. Ob ihr Sohn wisse, wer sein Vater sei, fragt er, und seine Zunge liegt ihm schwer wie ein Stein im Mund. Viola lacht, wenn sie das wüsste, manchmal stellten diese Kinder ja eigene Recherchen an, sie kämen auf die phantasievollsten Gedanken, weil sie Wert auf ihre Wurzeln legten. Sie habe ihren Sohn mit jeglicher Information seine Person betreffend, die ihr zur Verfügung gestanden habe, versorgt, aber das sei eben nicht mehr als der Geruch von Schweiß, die Haarfarbe und die ungefähre Größe gewesen, nicht einmal an die Augenfarbe habe sie sich erinnern können. Es sei eben so dunkel gewesen im Osten, immer überall nur diese Zwanzig-Watt-Birnen. Viola lacht. Dass er aus Westberlin
gekommen sei und um Mitternacht wieder zurückgemusst habe, habe sie Jonas erklärt, aber der könne sich unter der Mauer gar nichts mehr vorstellen. Warum er denn nicht noch einmal vorbeigekommen sei? Das hätte die Sache doch wesentlich erleichtert? Und wie sei überhaupt sein Name, sie wolle ihn sich nun endlich mal aufschreiben. »Andreas Hosch«, sagt Hosch, aber man nenne ihn seit der ersten Klasse nur beim Nachnamen, es habe damals zu viele Andreasse in seiner Klasse gegeben.
Karstädt, stellt sie sich vor, wie das Kaufhaus mit ä oder die Freundin von Karl Valentin, angenehm, wenn die Vorstellung auch einen Hauch zu spät komme. Aber besser jetzt als nie. Es sei absurd, sagt sie, man kenne sich nicht, aber jeden Tag habe sie seinen Nachkömmling vor sich, der nur mit großen Mühen seine Beine noch unter den Tisch bekomme. Vielleicht sei er ihr aber doch schon vertraut, denn ihr Sohn habe Angewohnheiten, die sie von sich nicht kenne, er sei zum Beispiel ordentlich, etwas, das ihr völlig abgehe, sie sei eine Anhängerin der Chaostheorie, was sie damals fast das Philosophiestudium gekostet habe, glücklicherweise sei sie gerade mit Jonas schwanger gewesen und so unter den Mutterschutz gefallen. Man könne also in guter dialektischer Tradition behaupten, dass Hosch ihr mit ihrem gemeinsamen One-Night-Stand den Studienabschluss gerettet habe. Wenn die das gewusst hätten, dass der Erzeuger ein Klassenfeind war. Viola kichert wie über einen guten alten Witz. Hosch weiß nicht, wen sie mit »denen« meint.
Übrigens habe sie nie Anspruch auf staatliche Alimentierung ihres Sohnes erheben können, fährt sie fort, weil sie den Namen des Vaters nicht gewusst und somit die Vorauszahlung vom Staat bei niemandem habe eingeklagt werden können. Aber er könne beruhigt sein, eine Laune des Gesetzes sehe die Zahlung von Unterhaltsvorschüssen nur bis zum zwölften Lebensjahr vor, danach seien die Kinder von Staats wegen nicht mehr bedürftig, dabei wüchsen sie nach zwölf erst richtig los, dass man mit dem Kauf von Klamotten gar nicht nachkäme, aber in seinem Falle könne er beruhigt schlafen, das zwölfte Lebensjahr sei fröhlich überstanden, die schönste Zeit im Übrigen, weil an Pubertät und dieses stete
Wachstum noch nicht zu denken gewesen sei. Jetzt gehe sie dem Kind nur noch bis zur Nase. Ja, was solle sie ihm sagen, all die
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