Walpurgistag
Kindergeburtstage, Osternnikolausweihnachten, spurlos seien sie an ihm vorbeigegangen, auch der Sturz vom Baum mit neun Jahren, der eine Narbe am Knie hinterlassen habe, oder die Verbrühung am rechten Arm, verursacht mit zwei, weil das Kind in einem Betriebsferienlager im letzten Jahr vor der Liquidation eine Kanne mit frisch aufgebrühtem Kaffee habe vom Tisch ziehen müssen, neugierig sei er schon immer gewesen. Dieser Moment der Unaufmerksamkeit hänge ihr heute noch nach. Hosch ist drauf und dran ihr zu sagen, dass sie keine Schuld treffe, aber zum Glück gelingt es ihm, sich eine Zehntelsekunde vor dem ersten Wort auf die Zunge zu beißen. Ob er außer diesem noch andere Kinder habe, beeilt Viola sich zu fragen, und er antwortet, er sei sich seit fünfzehn Minuten nicht sicher, ob ein Nein nicht eine Lüge sei. Die Worte kommen ihm jetzt ganz mühsam über die Lippen, als seien die Töne auf dem Weg von der Kehle hin zur Zunge wie Marshmallows aufgedunsen und verstopften den Mund.
Einen richtigen Walfischbauch habe sie gehabt, sagt sie, und bringt Hosch damit ins Grübeln, der solche Zeitsprünge nicht nachvollziehen kann, eben schon vierzehn und zu schnell gewachsen und nun noch nicht einmal geboren. Aber habe es da nicht schon ein Kind gegeben, fragt Hosch, damals, als er zu ihr gekommen sei? Aber sicher, die Lina, die sei jetzt für ein Jahr in Amerika und schreibe selten. Die sei ihr eine große Hilfe gewesen. Er schließt daraus, dass sie nicht verheiratet ist, zumindest nicht, als die Kinder klein waren, und sie sagt, lieber ließe sie sich vierteilen, als jemals den Bund der Ehe einzugehen. Sie lebe seit Jahren in einer Wohngemeinschaft, und nur deswegen habe sie heute ausgehen können, weil ihre Freundin nämlich keine Lust gehabt habe auf Bambule und die Wadenwickel übernommen habe. Zum Glück fragt sie nicht, ob Hosch verheiratet ist, wahrscheinlich würde er lügen und sich noch stärker in die Bredouille bringen. Warum er diesen Verband trage, fragt sie stattdessen. Sie habe es ja vorhin am Feuer schon gehört, ein Überfall im Wedding, was für ein Klischee.
Über diesem Gespräch sind sie an einem Haus angekommen, das im Erdgeschoss einen An- und Verkauf für HiFi-Anlagen beherbergt, und Hosch fällt schlagartig ein, dass er und Anna in diesem Haus 1999 einmal eine Wohnung besichtigt und nur deshalb nicht genommen haben, weil Anna die Aussicht auf den verfallenen Bau des Stadtbades gegenüber nicht zugesagt habe, das seit Jahren geschlossen ist. Anna war damals gerade aus dem Kosovokrieg zurückgekommen und hatte genug von Ruinen. Und so blieben sie in der kleinen Wohnung in Riehmers Hofgarten, einer Wohnanlage, die wie ein bürgerlicher Eindringling ihren Platz im proletarischen Kreuzberg verteidigt. Hosch malt sich aus, was gewesen wäre, wenn sie gemeinsam in einem Haus leben würden, und was Anna dazu gesagt hätte, der es wahrscheinlich nicht zu verschweigen gewesen wäre. Hosch denkt kurz darüber nach, ob es ratsam sei, Anna etwas von dem unverhofften Zuwachs zu erzählen.
Der Aufstieg in den vierten Stock fällt Hosch schwer. Schon auf dem Absatz des zweiten Stockwerks muss er sich kurz ausruhen. Viola erwähnt gerade beiläufig, wie schwer die Zeit nach der Geburt gewesen sei, als sie nächtelang mit dem Jungen durch die Gegend ziehen habe müssen, weil das das Einzige gewesen sei, das gegen die schweren Koliken geholfen habe, die das Kind befallen hatten in dem Moment, als sie mit ihm aus dem Krankenhaus gekommen sei.
Einen halben Absatz höher fragt sich Hosch, vor Schmerzen gekrümmt, warum er beim Feuer ihrer beider Begegnung vor vierzehn Jahren nicht sofort geleugnet habe. Indessen ist Viola dabei, die Wohnungstür zu öffnen, und noch im Eintreten ruft sie laut, dass sie jemanden mitgebracht habe, eine Überraschung. Sie zieht Hosch, der nun kaum noch etwas spürt, in den Raum rechts neben der Eingangstür. Er glaubt, sich da auf dem Bett noch einmal in Jung zu sehen, und bricht im nächsten Moment zusammen.
So schlimm sei das doch nicht, und er müsse doch nicht gleich einen Abgang machen, sagt Viola und stürzt zum Telefon, um 112 zu wählen und hastig den Sachverhalt zu schildern. Sie solle
sich keine Sorgen machen, sagt eine ruhige männliche Stimme am anderen Ende der Leitung, es seien einige Krankenwagen vor Ort wegen der Walpurgisnacht, in zwei Minuten komme jemand, bis dahin solle sie den Mann in eine stabile Seitenlage drehen und die Atmung beobachten. Sie legt auf
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