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Walpurgistag

Walpurgistag

Titel: Walpurgistag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annett Groeschner
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etc. sich breit macht; man möge indessen nicht vergessen, daß eine Stadt wie Berlin eine Menge von Parvenues erzeugt, die durch glückliche Spekulationen, oft auch durch unsaubere Handlungen reich geworden sind und denen nun zu einer vernünftigen Anwendung ihres Reichthums Erziehung und Bildung fehlen. Mögen diese Andeutungen dazu beitragen, den Fremden die Gelegenheit aufsuchen zu lassen, wo er den Berliner von der Seite des humanen, gebildeten Menschen kennenlerne; wir hoffen zuversichtlich, dass das nach der Klasse der Emporkömmlinge gebildete Urtheil
sich bedeutend zu Gunsten der Bewohner Berlins im Allgemeinen umgestaltet werde.«
    Die Köhnke will nun auch nicht mehr zuhören. Sie quält sich mit ihrer Gicht den Hügel hoch und schaut den anderen beiden beim Schaukeln zu. Man sieht in den dreien noch die Kindergestalten, zwei, die so lange schaukeln, bis die dritte weinend nach Hause rennt. Aber ganz so ist es nicht. Die Menzinger vertrudelt sich und bekommt Kreislaufprobleme, während der Hund bellt. Und die Schweickert kriegt es mit der Angst zu tun. Man ist eben doch nicht mehr die Jüngste. Und am Ende tasten sich die beiden Alten mit wackligen Beinen wieder zum Fuß des Hügels ans Feuer, während sich die Köhnke allein auf der Schaukel langweilt.
    »Von wann ist denn Ihr Baedeker?«, fragt Gerda Schweickert Viola Karstädt. »Ich hatte auch mal einen, aber von Sachsen.« – »Das Deckblatt mit dem Erscheinungsjahr fehlt leider. Muss irgendwie kurz vor der Jahrhundertwende herausgegeben worden sein. Die jüngste Jahreszahl, die ich im Buch gefunden habe, ist 1892. Charlottenburg war jedenfalls noch eine eigene Stadt.« – »Ja, die Charlottenburger, die haben die Nase ja auch immer sehr hoch getragen, weil sie dachten, bei ihnen ist die Luft besser. Dünner war sie, dünner, die haben jarnich jenuch Sauerstoff jekriegt.« – »Hat mir eine Amerikanerin geschenkt, die ich in der U-Bahn kennengelernt habe. Sie hatte das Buch noch aus ihrer Kindheit, ist in Charlottenburg aufgewachsen, bis ihre Eltern emigrieren mussten.« Trude Menzinger schweigt. Der Hund schnuppert an Viola Karstädt. »Stalin, weg von der Frau.« – »Wir haben Sie heute Nachmittag schon im Friedrichshain gesehen und wollten nicht glauben, dass Ihr Hund wirklich Stalin heißt.« – »Manche kriejen eben das, wat se verdient haben«, sagt Trude Menzinger knapp. »Und was treiben Sie so den janzen langen Tag?« – »Ich bin so was wie eine Wanderhure«, sagt Viola Karstädt, »mal hier, mal da, nur dass ich nicht meinen Körper, sondern meinen Kopf verkaufe, den ich jahrelang mit Philosophie gequält habe.«
    »Ich muss mal«, sagt Ilse Köhnke, die jetzt auch wieder am Feuer ist, »sieht hier eine ein Klo?« – »Jibt’s hier nich.« – »Heute ist
Walpurgistag. Machen Sie’s wie die Männer«, sagt Viola Karstädt, »Zeichen setzen, Spuren markieren.« – »Könnt ihr euch noch an die Zeit erinnern, als die Reisebusse keine Toiletten hatten? Da hat sich auch keine geniert.« – »Ja, das gab’s auf dem Weg an die Ostsee irgendwo in Mecklenburg immer den Pullerstopp. Und die Leute verteilten sich im Wald, und die Frauen pinkelten alle mit dem Rücken zum Bus, in einer Reihe. Und wenn man etwas tiefer in den Wald hineingegangen war und früher zurückkam, konnte man im Mondlicht eine ganze Menge weiße Mösen aus dem Waldboden leuchten sehen.« Gerda Schweickert kichert. »Hoffentlich sieht mich niemand.« – »Is ja bedeckt heute.«
    »Machen Sie das Feuer aus«, befiehlt ein Polizist, der eben in den Lichtkreis getreten ist. Die alten Frauen stieben kichernd auseinander und verteilen sich in der Dunkelheit. Viola Karstädt schlägt Kiesslings Berliner Baedeker zu, in dem sie eben noch interessiert und nur für sich etwas über das Arbeitshaus in Rummelsburg nach Blankensteins Plänen für Landstreicher, Bettler und liederliche Dirnen gelesen hat. Liederliche Dirnen, welch ein schöner Begriff. Das klingt nach heruntergerutschten Strumpf bändern. »Hören Sie mal«, faucht sie den Polizisten an, »jeder hat in der Stadt seinen Tag. Die stark dezimierten Arbeiter den I. Mai, die Schwulen den Christopher Street Day, die Migranten den Karneval der Kulturen, die Exilkölner ihren Hilfs-Fasching, die Techno-Freaks die Love-Parade, die Kiffer die Hanf-Parade, die Nationalisten den Tag der Deutschen Einheit und nur wir Hexen, wir sollen nicht feiern dürfen? Das ist doch ungerecht.« Aber sie ist noch nicht fertig mit ihrer

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