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Walpurgistag

Walpurgistag

Titel: Walpurgistag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annett Groeschner
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Besitzer des Ladens ist kleiner als er, wahrscheinlich weiß er nicht, dass Paul erst dreizehn ist, oder er hat ihn bisher für ein Mädchen gehalten. Wer weiß denn schon, ob Vietnamesen Deutsche überhaupt voneinander unterscheiden können. Er verwechselt die Vietnamesen immer.
    Paul schaut vorsichtig um die Ecke ins Schlafzimmer seiner Mutter. Die Tür ist nur angelehnt, die Mutter liegt nicht im Bett, das Bettzeug ist unberührt. Er geht auf Zehenspitzen weiter. Auch im Atelierraum ist sie nicht. Das Bild, das sie gestern angefangen hat, ist zerschnitten, überall ist rote Farbe verkleckert, die Spur
führt von der Leinwand bis in die Küche. Paul folgt ihr mit klopfendem Herzen. Er fürchtet, dass es keine Farbe ist.
    Die Mutter arbeitet seit vielen Jahren mit organischen Materialien. Irgendetwas verdirbt immer auf ihren Bildern und fängt an zu stinken oder Schimmelkulturen zu bilden. Sie baut dann aufwendige Glaskästen, um den Gestank zu verbannen, was ihr nie ganz gelingt. Wenn man ihm die Augen verbände, würde er die Wohnung unter Tausenden herausriechen.
    Die Mutter verkauft selten ein Bild, und Geld für ein Atelier außerhalb der Wohnung hat sie nicht.
    Paul erinnert sich plötzlich daran, dass seine Mutter vor Kurzem bei einem Essen mit Freunden, bei dem sie mal nichts trank, von dem Dichter Jessenin geschwärmt hat. Der habe sein Abschiedsgedicht mit Blut geschrieben. »So viel Mut musst du erst mal haben«, hat die Mutter gesagt, aber die anderen ließen sich nicht davon überzeugen, dass das ein guter Tod sei.
    Bis zum Hals klopft sein Herz, so stark, dass es ihm fast die Luft nimmt.
    Einmal hat er sie nach der Schule nackt mit den Gliedmaßen an den Bettpfosten festgebunden gefunden. Im Mund hatte sie einen Knebel, und ihre Augen waren gerötet, feuchte schwarze Kajalrinnsale hatten sich einen Weg bis zu den Ohren gebahnt. Als er ihr in die Augen sehen wollte, schaute sie weg. Er hat versucht, nie wieder an den Anblick zu denken, aber er träumt oft von einem großen nackten Fleischberg mit dicken Kugeln über einem runden Bauch, und dann wacht er schweißgebadet auf. Sie haben nie darüber gesprochen. Seine Mutter hat ihm auch nicht gesagt, dass er niemandem davon erzählen solle. Paul hätte auch gar nicht gewusst, wem.
    Seine Mutter bringt oft Männer mit. Sie kommen meist gegen Mitternacht, die Mutter sagt: »Psst, nicht so laut«, und Paul stellt sich schlafend. Dann dauert es nicht lange, und aus dem Schlaf zimmer sind kurzatmige Geräusche zu hören, die mit einem Brummen oder Schreien enden. Manchmal fallen sie aber auch gleich im Flur übereinander her, oder sie verziehen sich ins Atelier,
und Paul findet sie dann am Morgen zwischen den Staffeleien, nackt und mit Farbe beschmiert. Einmal, er ging in die zweite Klasse, saß einer auf seiner Mutter und tat, als würde er reiten. Dabei griff er ihr ins Gesicht, sie biss ihn in den Finger, er gab ihr mit der flachen Hand Ohrfeigen. Paul ging dazwischen und stieß den Kerl mit einer Kraft, von der er nicht wusste, dass er sie überhaupt besaß, von seiner Mutter herunter. Nach dem ersten Schreck brach der Mann in Lachen aus, und am Abend hat seine Mutter ihn aufgeklärt über das Verhältnis von Mann und Frau, das manchmal etwas gefährlich aussähe.
    Meistens besetzen die Kerle morgens aber nur das Bad. Komischerweise grinsen sie alle blöd, wenn sie ihn sehen, ob sie nun groß, klein, schwarzhaarig oder schwarzhäutig sind. So als hätten sie etwas Verbotenes getan, wollten sich bei ihm aber nicht entschuldigen. Einmal, als er zehn war und noch in die Grundschule in der Gipsstraße ging, hat ihm einer aus der Sechsten ein Bein gestellt und laut über den Schulhof geschrien: » Wenn deine Mutter noch mal meinen Vater fickt, bist du tot.« Ein anderer hat ihn in die Arme eines Kumpels geschubst, und der hat ihn zurückgeworfen wie einen Gegenstand. » Wer ist denn überhaupt dein Vater? So wie du aussiehst, müsste es eigentlich ein Außerirdischer sein.«
    Paul hat eine Zeit lang einen Vater gehabt, Bruno. Bruno war schon ein bisschen älter und redete nicht viel. Er hatte lange Haare wie er, die er wie er zu einem Zopf gebunden trug. Manchmal haben sie Ausflüge gemacht, in den Zoo, und einmal sogar einen ganzen Tag und eine Nacht lang in den Wald, wo sie sich eine Baumhütte gebaut und Wasser aus einer Quelle getrunken haben.
    Aber eines Tages, kurz nachdem man Paul Blut abgenommen hatte, ist Bruno aus seinem Leben verschwunden, und seine

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