Walpurgistag
»Meinetwegen«, sagt Vivian. »Aber lass uns sofort losgehen.« Das Sofort kommt im Befehlston, mit Betonung auf der ersten Silbe.
Das Treppenhaus macht einen weniger bedrohlichen Eindruck als in der Nacht. Ein bisschen vollgestellt eben. Auf der Straße nimmt Vivian Viola bei der Hand und zieht sie hinter sich her. Viola wartet brav mit ihr an der Ampel, bis es grün wird. Wahrscheinlich würde Vivian es nicht gutheißen, wenn sie bei Rot ginge.
Die Verkäuferin kennt das Mädchen schon. Viola hingegen schaut sie fragend an. »Ich bin nur der Besuch«, sagt die entschuldigend und macht einen Großeinkauf, als wolle sie die Nacht mit Naturalien bezahlen.
Als sie wieder zurückkommen, ist das Schlafsofa zusammengeklappt. Auf dem winzigen Couchtisch stehen die Frühstücksteller gestapelt. »Einen größeren Tisch haben wir nicht«, sagt Melanie. »Am besten, jeder nimmt seinen Teller in die Hand.« Die Jungen toben so lange auf der Lehne des Sofas, bis sie abbricht. »Kannst du denen nicht mal richtig den Hintern versohlen?«, fragt die Cousine Ulfi. Der schaut sie nur kurz an, steht auf und widmet sich seinen Welsen. »Kinder schlägt man nicht«, sagt Melanie, »die Lehne kann man wieder ankleben.« – »Das kann ja heiter werden«, sagt die Cousine, »ich hoffe, Anastacia ist ruhiger.«
Schließlich schaffen sie es doch, zu acht um den kleinen Frühstückstisch zu sitzen. Im Hintergrund läuft der Fernseher ohne Ton. Viola setzt sich mit dem Rücken zu ihm und schaut den anderen zu, wie sie beständig auf die Mattscheibe schauen und dabei reden.
»Ich wär so gern Verkäuferin«, sagt Melanie, »immer noch. Ich hab schon als Kind gerne Kaufladen gespielt.« – »Ja, und wir Kleinen mussten immer bei ihr einkaufen.« Ihre Cousine verdreht die Augen. »Wer kein Geld hatte, musste die Waren gleich wieder zurückgeben. Boa, diese furchtbaren Marshmallows, die schon zehn Kinder angefasst hatten.« – »Die konnte man noch essen«, verteidigt sich Melanie, »ist keiner gestorben dran. Dreck reinigt den Magen, haben unsere Mütter schon gesagt.« – »Ich wollte noch nie Leute bedienen«, sagt die Cousine und schaut den ihr Angetrauten an. »Dich auch nicht, brauchst du gar nicht so gucken.« Ihr Mann blickt gleichgültig auf seine Turnschuhe. »Ich
mein ja nicht bedienen. Beglücken«, sagt Melanie, »die freu’n sich doch, wenn sie was Schönes kaufen können.« – » Verkäuferin können Sie doch immer noch werden«, sagt Viola. – »Ja, aber ich bin zu alt für eine Ausbildung, sagen die auf dem Arbeitsamt. Außerdem hab ich zu viele Kinder.« – »Das kann doch kein Grund sein!« Viola möchte sich sofort beim Arbeitsamt erkundigen, ob Melanie Schöller mit drei Kindern keinen Anspruch auf Wiedereingliederungsunterstützung hat. Aber dann denkt sie, dass es doch nur das schlechte Gewissen ist, das sie treibt. »Warum machen Sie denn keine Umschulung als Verkäuferin?« – »Weil ich schon als Verkäuferin gearbeitet habe. Das war schön, an der Kasse von Aldi. Ich kann heute noch die Preise auswendig. Aber dann wurde ich wieder schwanger. Ich hätte ja sogar aufs Gymnasium gekonnt, aber als ich sechzehn war, kam Vivian, und dann wurde es nur ein erweiterter Hauptschulabschluss. Naja, Vivi wird’s mal besser haben, die passt besser auf.« – »Ja«, sagt Vivian, »und ich will eine Schultüte voller Süßigkeiten und nicht mit Zeitungspapier drin wie deine.« – »Kein Zeitungspapier, versprochen«, sagt Melanie, »da kommen lauter Bonbons rein.«
Viola überlegt, ob sie ein so selbstständiges Kind kennt.
Doch, Paul, der Sohn von Anke Bülow, der Malerin. Violas Sohn kennt ihn seit der Kindergartenzeiten. Paul hat es auch nicht leicht mit seiner trinkenden Mutter. Aber war das zu vergleichen? Er ist schon zwölf.
»Und, die Schule?«, fragt Viola. »Hat gerade angefangen«, sagt die Cousine, mit Blick auf die Uhr im Videorekorder. Ihr Mann grinst. »Oh, er hat verstanden«, sagt sie. »Er macht Fortschritte. Ich würde mal sagen, du isst jetzt auf und gehst zur zweiten Stunde. Sonst lass ich mich scheiden.« Sie wiederholt es noch mal auf Türkisch. Ihr Mann hört auf zu grinsen. Sein Pflaster am Hals leuchtet. Es sind spielende Bären darauf. »Ich kann ja einen Entschuldigungsbrief schreiben«, bietet sich Viola an, »wenn Sie mir einen Zettel geben.«
Im ganzen Haushalt gibt es aber kein leeres Blatt, sieht man mal von den Schulheften in Vivians Ranzen ab, die aber nicht
bereit ist, auch nur
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