Walpurgistag
angefangen.
Es gibt keine Kinder mehr außer ihm in der Straße, und keinen Spielplatz weit und breit. Aber ihm gehört sowieso die ganze Stadt.
Seine Mutter bekommt von seinen Streifzügen nie etwas mit, denn er findet immer nach Hause zurück, weil er die Tricks kennt. Nur einmal, er war sechs, hat die Polizei ihn zurückgebracht, als er in Lichtenberg herumirrte. Der eine Polizist hat ihm auf der Fahrt mit dem Streifenwagen nach Hause den Tipp gegeben, wenn er die U-Bahn nicht finde, solle er sich eine Bushaltestelle suchen, wo immer ein Stadtplan hänge, auf dem der Standort eingezeichnet sei. Man müsse aber den Plan schon lesen können. Paul hat es schnell gelernt, und so findet er immer nach Hause zurück, ob er nun in Rudow oder Marienfelde herumstreunt.
Paul hält die Dusche über seinen Kopf und fährt sich mit den Fingern durch das kurze Haar. Es piekt. Im Spiegel sieht er einen blassen unbekannten Jungen, dem die Haare zu Berge stehen. Im Brotkasten liegt noch ein Kanten, den er mit Marmelade bestreicht. Er brüht sich einen Pfefferminztee auf. Ihm gehört ein ganzer Tag, aber was soll er damit anfangen? Er macht das Radio an und sucht seine Sachen zusammen. Seine Schuhe drücken. Er nimmt kurzerhand die seiner Mutter, rot mit großen Spangen an der Seite. Auch deswegen entscheidet er sich gegen den Schulrucksack und für das Skateboard.
»Radio Eins, der schöne Morgen. Mit dem Wetter für Berlin und Brandenburg. Cottbus liegt wie immer vorne mit zehn Grad und heiterem Himmel, Berlin folgt auf dem Fuße mit acht Grad und leichtem Regenschauer, Potsdam ebenfalls acht Grad, was aber auch nicht stimmt, weil in Potsdam-Babelsberg die Sonne scheint, aber so ist es eben heute: wechselnd bewölkt, heiter bis wolkig, maximal Werte um sechzehn Grad. Mehr dazu nicht gleich, sondern jetzt mit Christian Fint in den Nachrichten. Radio Eins, die Welt um neun.«
9.00 Uhr
Katrin Manzke verkocht ein Ei und hat einen Termin beim Arbeitsamt
»Radio Eins, die Welt um neun. Kanzlerkandidat Stoiber hat Bundeskanzler Schröder ein parteienübergreifendes Bündnis gegen die Gewalt angeboten. Er sprach sich unter anderem für ein schärferes Waffenrecht aus. Das Erwerbsalter sollte auf einundzwanzig Jahre heraufgesetzt werden, so Stoiber. Darüber könnte man sich im Vermittlungsausschuss von Bundestag und Bundesrat noch in dieser Legislaturperiode im Mai oder Juni verständigen. – Die deutsche Marine wird im internationalen Terroreinsatz am Horn von Afrika das Flottenkommando erhalten. Das teilte das Verteidigungsministerium mit. Der Oberbefehl werde bis Ende Oktober übernommen. – Die israelische Regierung will heute ihre Entscheidung über eine UN-Mission nach Dschenin bekannt geben. Israel weigert sich seit Tagen, die Kommission ins Land zu lassen. Das Team soll prüfen, ob es in dem palästinensischen Flüchtlingslager ein Massaker gegeben hat. – Sport. Die deutsche Eishockeynationalmannschaft hat die Zwischenrunde bei der Weltmeisterschaft in Schweden erreicht. Das Team verlor zwar das letzte Gruppenspiel gegen Titelverteidiger Tschechien, hatte sich aber schon zuvor für die Runde der zwölf besten Mannschaften qualifiziert...«
Katrin Manzke dreht das Radio leise und flucht. Ich weiß auch nicht, warum mir die Eier immer platzen müssen, irgendwas mache ich falsch. Angesichts der Eiweißbeulen, die am Topf kleben, möchte sie sich am liebsten übergeben. Die Spüle müsste auch mal geputzt werden. Was habe ich mich damals nach einer Edelmetallspüle verzehrt. Hätte ich gewusst, dass die nur schön aussieht, wenn man ein Talent zur Hausfrau hat, hätte ich die alte aus weißer Emaille behalten. Hätte ich meine Tochter besser
erzogen, bliebe die Hausarbeit nicht nur an mir hängen. Katrin Manzke wischt mit dem Schwamm flüchtig über das Edelmetall. Saskia liegt im Bett und ist krank. Und ich muss heute Pizza fahren und vorher zum Arbeitsamt. Und dann ist ja da noch das Treffen mit einem gewissen Hosch, von dem heute Nacht eine SMS mit dem Treffpunkt kam: Schaubude. Eigenartiger Ort für ein erstes Treffen, ein Puppentheater.
Das Arbeitsamt befindet sich nur einen Handgranatenwurf von ihrer Wohnung entfernt im ehemaligen Hauptsitz des Ministeriums für Staatssicherheit, einem langsam zerbröselnden grau-roten Plattenbau in der Gotlindestraße. Als Kind ist Katrin Manzke manchmal hineingegangen, um ihren Vater zu besuchen, der das Gebäude nur »die Burg« nannte. »Ich möchte zu Major Morsbecher«, sagte
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