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Walpurgistag

Walpurgistag

Titel: Walpurgistag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annett Groeschner
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Mutter hat gesagt: »Bruno war nicht dein Vater, und Geld kriegen wir auch nicht mehr.«
    Seine Mutter ist kurze Zeit danach mit ihm zu einer Vernissage gegangen, was er zu dieser Zeit schon gar nicht mehr mochte,
aber seine Mutter hat gesagt: »Nur einmal noch«, und es gebe eine Überraschung. Und dann hat sie auf den Künstler gezeigt und gesagt: »Das ist dein Erzeuger. Er will’s zwar nicht glauben, aber das Gericht hat es bestätigt. Sieht er nicht gut aus? Ich finde, er ist dir ähnlich.« Sie schlich um ihn herum, aber er würdigte weder sie noch Paul eines Blickes. Seine Bilder gefielen Paul nicht. Ein paar Striche kreuz und quer auf der Leinwand. Den wollte er nicht als Vater.
    Manchmal lief er Männern hinterher, die wie Bruno aussahen, aber nie war er es.
    Seine Mutter sitzt in der Küche auf einem Stuhl, der Kopf liegt auf der Tischplatte. Sie schnieft in regelmäßigen Abständen. Ihre Arme sind mit derselben roten Farbe beschmiert, die auch auf den Fußboden gekleckert ist. Ein dünnes Rinnsal Schleim läuft aus ihrem Mund und hat unter ihrem Kinn eine Pfütze gebildet. Am anderen Ende des Tisches steht eine leere Flasche Schnaps, die er gestern beim Vietnamesen gekauft hat. Die Haut seiner Mutter fühlt sich kalt an. Paul schüttelt sie an der Schulter: »Anke, wach auf, Anke, geh ins Bett.« Die Mutter hebt den Kopf. Ihr Gesicht ist verquollen, die Augen verklütert. Das blonde Haar klebt ihr an der rechten Wange. Sie braucht eine Weile, ehe sie ihn erkennt. »Wo sind deine Haare? Du spinnst wohl.« – »Das hast du gestern schon gesagt.« – »Kennst du die Geschichte von Samson?« Paul schüttelt den Kopf. »Nee? Na, dann lies sie mal, steht in der Bibel.« Sie legt ihren Kopf mitten in die Schleimpfütze und schnellt im selben Moment hoch. » Warum musst du mich wecken? Wie spät ist es überhaupt?« Sie schaut blinzelnd auf die Küchenuhr an der Wand. » Wieso bist du nicht in der Schule?« – »Mathe fällt aus.« – »Dauernd fällt Unterricht aus, was soll nur aus euch werden? Ich muss wohl mal in die Schule kommen.«
    Beim Aufstehen verliert sie das Gleichgewicht und stürzt auf die Kacheln des Küchenfußbodens. Ihr Körper stinkt säuerlich. Paul versucht, nicht durch die Nase einzuatmen, als er seiner Mutter unter die Achseln greift und sie ins Schlafzimmer schleift. Jedenfalls brauche ich kein Hanteltraining wie Murat, denkt er.

    Er zieht ihr die Schuhe aus, deckt sie zu, stellt ihr eine Schüssel mit Wasser neben das Kopfende des Bettes und schließt vorsichtig die Tür. Dann geht er ins Bad. Sie hat wieder danebengekotzt. Paul hält den Duschschlauch über die Klobrille und dreht den Wasserhahn auf. Er wird nie einen Schluck Alkohol trinken, und Drogen nehmen wird er auch nicht.
    Wenn seine Mutter nur wenig getrunken hat, macht sie sich schön, und manchmal gehen sie gemeinsam aus der Wohnung auf die Straße und spielen Touristen. Sie laufen dann durch das gegenüberliegende Tor auf die Hackeschen Höfe, sprechen Englisch und fragen Passanten nach der Dircksenstraße, die gleich um die Ecke liegt, aber völlig unbekannt ist.
    Die Sophienstraße, in der sie wohnen, steht in jedem Stadtführer von Berlin, und seit ein paar Jahren kommen die Leute hierher, weil ein Minister im Nachbarhaus wohnt. Paul hat ihn hier noch nie gesehen, nur ein Polizist patrouilliert unablässig zehn Schritte in Richtung Kirche und zehn Schritte in Richtung Rosenthaler Straße. Die Touristen stellen sich in Gruppen an den Zaun des Kirchengeländes und starren minutenlang auf das Haus, in dem der Minister angeblich wohnt, bis sie sich auf ein unsichtbares Kommando hin zum Gehen wenden.
    Bis auf die alte Frau im Nebenhaus, die schon in der Straße geboren worden ist, sind Paul und seine Mutter die Einzigen, die von den alten Mietern übrig geblieben sind. Auch die anderen Maler, die hier noch vor Pauls Geburt Wohnungen hatten, leben längst woanders. Seine Mutter hat sich, als das Haus verkauft wurde, Paul war gerade in die Schule gekommen, mit allen Mitteln gegen einen Umzug gewehrt, obwohl ihnen eine Menge Geld dafür geboten worden war. Aber seine Mutter sagte damals, sie brauche den Anblick der Sophienkirche, um zu malen. Kein Geld der Welt werde sie aus der Wohnung bringen. Der Streit hat sich ein Jahr hingezogen, und eine Weile haben sie ganz alleine im Haus gewohnt. Seine Mutter ist abends immer zu Hause geblieben, damit er sich nicht fürchtete. In der Zeit hat sie mit dem Schnapstrinken

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