Walpurgistag
eins davon herzugeben. Also spendiert Viola eine Seite aus ihrem Notizbuch, und die türkische Cousine fragt, ob das ein Tagebuch sei, und wenn ja, ob sie da auch drin vorkämen. »Ich will da auf keinen Fall rein«, sagt Vivian, und Viola beteuert, das sei ein Notizbuch, kein Tagebuch. »Da schreib ich nur rein, was ich gelesen habe und ob’s mir gefallen hat.« Vivian wirft ihr einen misstrauischen Blick zu.
Sehr geehrte Direktorin, mein Mann konnte leider an der ersten Stunde des Deutschkurses nicht teilnehmen, da unsere Tochter plötzlich erkrankt ist und er uns zum Doktor bringen musste. Mit freundlichen Grüßen
» Wie ist Ihr Nachname?«, fragt Viola. »Den kann eh kein Deutscher schreiben.« Die Cousine nimmt Viola den Zettel aus der Hand, setzt ihre Unterschrift unter das Schreiben und gibt es ihrem Mann. »So, Schuhe und Jacke an, aber ein bisschen plötzlich.«
»Ich werd dann auch mal gehen«, sagt Viola Karstädt und gibt jedem die Hand. Vivian will sie über den Kopf streichen, aber die entzieht sich geschickt. »Vielen Dank für Ihre Gastfreundschaft«, sagt sie zu Melanie. »Und Sie haben auch wirklich heute Nacht eine Unterkunft?« – »Ja, ganz sicher«, sagt Viola.
Drei Minuten später steht sie auf der Harzer Straße.
8.17 Uhr
Paul Bülow hat verschlafen und disponiert um
Jetzt schleicht sich der Mann aus einer dunklen Ecke noch einmal an ihn heran. Der Maskierte hebt einen glatten langen Gegenstand mit beiden Armen hoch über den Kopf und lässt ihn mit voller Wucht auf ihn niedersausen. Paul spürt einen dumpfen Schlag, die Beine knicken unter ihm weg, am Rücken der Druck kalter Steine. Dann wird es dunkel.
Und plötzlich wieder hell. Ein Blick auf den Wecker: Er hat verschlafen, eine ganze Stunde. Es ist schon das dritte oder vierte Mal in diesem Monat und der zweite Dienstag, an dem er in der ersten Stunde Mathe hat. Der Lehrer lässt Zuspätkommer sofort zur Tafel durchlaufen. Dann gibt es eine extraschwere Aufgabe für die Asozialen, die die Uhr nicht lesen können, wie der Lehrer in solchen Momenten zu betonen pflegt. Paul ist in diesem Halbjahr schon zweimal ein Asozialer gewesen, und zweimal hat er sich da vorne an der Tafel eine Sechs eingefangen. Noch eine schlechte Note, und er kann die Siebente wiederholen. Paul wirft sich aufs Kissen zurück und starrt an die Wand. Liegen bleiben? Weiterschlafen ? Wie hat der Traum überhaupt angefangen?
Er saß mit den anderen im Klassenraum, die Biologielehrerin kam herein, und nach der Begrüßung verteilte sie kopierte Zettel mit zwei Aufgaben. Irgendetwas mit Zellen. Sie sagte: »Ihr habt zwanzig Minuten Zeit. Die Uhr läuft.« Als sie sich umdrehte und den Gang hindurch in Richtung Tafel ging, stand Murat neben ihm auf, zog eine Waffe aus einer der Taschen seiner Baggy und zielte auf den Rücken der Biologielehrerin. »Nein«, schrie Paul im selben Moment und versuchte, Murat die Hand herunterzuschlagen, ohne Erfolg, denn Murat geht ins Fitnessstudio. Paul kann sich an seine ausgestreckten Oberarme hängen, ohne dass Murat
das Gesicht verzieht. Im Traum sagte er: » Verfatz dich, Fliege, sonst bist du dran«, kurz hielt er die Waffe an Pauls Kopf, dann drehte er, mit beiden Zeigefingern am Abzug, den Lauf der Waffe wieder in Richtung des Körpers der Lehrerin. Drei Mädchen rechts von Paul kreischten, die Lehrerin hatte sich schon halb umgewandt, als der Schuss in ihre Brust ging und sie die Drehung nun völlig willenlos vollendete, bis sie auf dem Boden lag und der Blutfleck sich im Stoff ihrer Bluse konzentrisch ausbreitete. Paul konnte nicht wegsehen. Die anderen waren längst aus dem Klassenzimmer gerannt. Murat lachte laut über das Chaos, das er ausgelöst hatte, die Pistole auf die Flüchtenden gerichtet. Er schoss nicht noch einmal, sondern ahmte wie ein Kind, das Cowboy spielt, die Schussgeräusche nach. Paul gelang es als Letztem, aus dem Klassenraum zu entkommen, beinahe wäre er noch über die tote Lehrerin gestolpert, die mit offenen Augen dalag. Ihr Blick war überrascht, nicht ängstlich. Auf dem Hof war er ganz allein, und plötzlich stand da der Maskierte mit der Waffe.
Paul kann sich denken, welchem Erlebnis er diesen blöden Traum verdankt. Murat ist der Mitschüler, der ihn jeden Morgen mit »Schwule Ratte« begrüßt. Gestern hat er ihm gesagt, wenn er eine Waffe hätte, und die hätte er bald, er habe da einen aus dem Knast kennengelernt, würde er als Ersten ihn, Paul, erschießen. Er hat Pauls lange Haare so
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