Walpurgistag
sie am Eingang durch eine Wechselsprechanlage, und der Pförtner antwortete auf Sächsisch: »Nu, de kleene Katrin, da mechten wor mal nachfragen, wo er is.« Und dann drückte er auf mehrere Knöpfe der Telefonanlage. Wenn ihr Vater im Haus war und Zeit hatte, durfte sie zu ihm hoch. Eigentlich lag ihr mehr daran, mit dem Paternoster bis zur obersten Etage und zurück zu fahren. Im Grunde genommen war ihr Vater ihr fremd: Sie sah ihn in der Woche höchstens fünfzehn Stunden. An den Werktagen nur, wenn sie ihn auf Arbeit besuchte, am Sonnabend bekam sie ihn erst gegen Abend zu Gesicht, denn da spielte er Fußball bei den alten Herren von Dynamo, und am Sonntag nicht vor Mittag, weil er wenigstens einmal in der Woche ausschlafen wollte. An einem dieser Sonntage fragte sie ihn, was er eigentlich in dem großen Haus mache. Sie war gerade aus dem Kinderferienlager gekommen, und ihre Freundin hatte sich damit gebrüstet, dass ihr Vater Kundschafter hinter den feindlichen Linien sei. Katrin konnte sich nichts darunter vorstellen, ihre Freundin aber nach genauerem Nachfragen auch nicht. Katrin wusste gar nichts über ihren Vater, außer dass er in einem Büro saß mit Telefonen und einer Sekretärin im Vorzimmer. »Sag doch deiner Freundin, dein Vater passt auf die DDR auf«, versuchte ihr Vater sich herauszureden. »Aber die DDR ist doch viel zu groß«,
antwortete Katrin, und der Vater meinte, sie seien ja auch sehr viele, allein in seinem Haus säßen mehr als tausend Mitarbeiter. »Und warum muss auf die DDR aufgepasst werden?«, hat Katrin weitergebohrt. »Damit die Gute nicht über die Stränge schlägt.« Der Vater grinste bei der Antwort. Das verstand Katrin nicht, und er erklärte ihr, dass es rund um die DDR Feinde gebe, selbst an der Ostsee, der man das ja erst mal gar nicht ansehe. Aber am schlimmsten und hinterhältigsten seien die Feinde im Inneren und am allerallerschlimmsten die in Berlin. »Du musst dir vorstellen, die DDR ist ein Körper wie der eines Menschen, nehmen wir zum Beispiel deinen. Du bekommst eine schwere Angina, weil Bakterien deinen Körper angreifen. Also gehst du zum Arzt, und der verschreibt dir Antibiotika. Und die töten die Bedroher ab.« – »Und ihr seid das Antibiotika?« – »Wir sind das Antibiotika.« Aus einem diffusen Gefühl heraus bediente sie sich dieser Erklärung außerhalb der Wohnung nie. Sie sagte, wenn sie gefragt wurde, was ihr Vater mache, weiter das, was im Klassenbuch stand, er sei Mitarbeiter im Innenministerium. Die Erklärung »Sitzt in einem grauen Büro mit Honeckerbild und großem Telefon« war für die flüchtigen Bekannten. »Mein Vater ist Sesselfurzer« blieb später für die gleichaltrigen Freunde reserviert.
Der Vater ist tot, vor drei Jahren am Suff gestorben. In seinem Büro stand damals ein großer Kühlschrank mit nichts als Wodka und ein paar unbelichteten Filmen drin. Nachdem sich ihre Mutter hatte scheiden lassen, um einen Polizisten zu heiraten, was auch nicht viel besser war, haben sie sich kaum noch gesehen. Nach dem Zusammenbruch der DDR hat sie jedes Treffen mit ihrem Vater abgelehnt, obwohl er nur ein paar Häuser entfernt wohnte. Sein Name ist in der ersten Zeit nach der Erstürmung der Stasizentrale im Zusammenhang mit geöffneten Briefen und Päckchen öfter gefallen, denn er hat in der Postkontrolle gearbeitet. Sie schämt sich noch heute für ihren Vater. Anderer Leute Briefe lesen und Sachen aus den Paketen klauen, ist so armselig, dass sie eine Gänsehaut bekommt, wenn sie nur daran denkt.
Hin und wieder trifft sie ihre Mutter auf der Straße. Sie klagt dann im Schnelldurchlauf über alles und jeden. Dabei arbeitet sie immer noch im Rathaus, für sie haben sich nur ein paar Ausführungsbestimmungen und ein paar Gesichter geändert. Anscheinend mühelos ist sie von der Meldestelle der Polizei zum Bürgeramt gewechselt, wo die Angestellten angehalten sind, wenigstens bei der Begrüßung zu lächeln. Darin ist ihre Mutter ganz schlecht.
Katrin Manzke hat ihre Geschichte abschütteln wollen, aber je mehr sie schüttelte, desto stärker krallte sich die Geschichte an ihr fest. Selbst im Arbeitsamt ist sie präsent, denn es steckt im selben Körper wie das Ministerium für Staatssicherheit.
Eigentlich müsste sie von hier wegziehen. Jetzt ist es das Geld, das sie davon abhält. Aber vielleicht ist es ja auch nur die Bequemlichkeit. In Neukölln ist die Miete bestimmt auch nicht höher. Aber da will Saskia nun wieder nicht hin, die
Weitere Kostenlose Bücher