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Walpurgistag

Walpurgistag

Titel: Walpurgistag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annett Groeschner
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lange verdreht, bis es Paul nicht mehr möglich war, sich auch nur einen Millimeter ohne Schmerzen zu bewegen, Pauls rechtes Ohr an seinen Mund gezogen und hineingebrüllt: » Wird Zeit für den Friseur, ich kenn da einen, der macht’s kostenlos.« Dann hat er mit einem Teppichmesser vor Pauls Gesicht herumgefuchtelt und »Atta, Atta« geschrien. Die anderen aus seiner Clique haben gelacht, am lautesten Bosco, der früher mal Pauls Freund war. Seit er in Murats Clique aufgenommen ist, darf er nicht mehr mit ihm reden. »Ich und meine Freunde haben jetzt übrigens einen Namen, kannst du ruhig jedem weitersagen«, schrie Murat. » Wir nennen uns The Stonehouses, nach unserem großen Vorbild aus – wie hieß die Stadt gleich noch mal? –, du bist doch der Erdkundestreber?« – »Erfurt«, flüsterte Paul. »Sieh
an, sieh an, selbst unter Stress versagt er nicht. Und jetzt verfatz dich, Memme, ehe das Teppichmesser anfängt zu sprechen.«
    Es gibt also keinen Grund, in die Schule zu gehen. Morgen ist sowieso frei. Leid tut ihm nur, dass er Klara heute nicht sieht. Die hat, als sie Paul gestern im Teppichmesser-Griff von Murat sah, so laut gebrüllt, dass alle zusammenliefen und Murat ihn mit dem in Klaras Richtung gebrüllten Satz »Halt’s Maul, Fotze« losließ. Paul ist sofort aus der Schule und in den Weinbergspark gestolpert, wo er sich auf eine Bank hinter den Fliederbüschen hockte, um leise vor sich hin zu weinen, bis sich Klara neben ihn setzte und ihm ein Stofftaschentuch hinhielt, auf dem drei Diddlmäuse schnaubten. Gegen seinen Willen hat er darüber lachen müssen, obwohl er Diddlmäuse kitschig findet.
    Klara nahm ihn mit zu sich nach Hause, wo sie Pudding aßen und eine Folge One Piece anschauten. Paul beneidet die Figuren, die immer eine Lösung durch Wegfliegen oder Unsichtbarmachen finden. Vor einer Woche kam seine Mutter dazu, als er sich die Serie ansah. Sie schimpfte, dass das Volksverdummung sei, schon immer hätten sie diese Comics angekotzt, immer würden die Figuren gevierteilt oder erschossen, und immer setzten sie sich hinterrücks wieder zusammen: »So ist das nicht im Leben, so nicht.« – »Das weiß ich doch, Mama«, hat Paul gesagt, »reg dich nicht auf, im wirklichen Leben ist alles viel schlimmer.«
    Klara hat ihm gestern auf seinen dringenden Wunsch hin das lange Haar abgeschnitten. Widerstrebend, denn sie fand, dass gerade seine Frisur ein Ausdruck dafür sei, dass Paul nicht den anderen alles nachmache. Mit den langen Haaren sei er der Paul. Aber Paul meinte, er wolle fortan so unsichtbar wie möglich sein.
    Paul war sich hinterher zum ersten Mal leicht vorgekommen. Und auch jetzt merkt er, dass es keinen Widerstand gibt, wenn er den Kopf hebt, um an seinem selbst gebauten ICE-Modell auf dem Fensterbrett vorbei in den grauen Himmel zu schauen. Sein Zopf liegt auf dem Fußboden, wie eine tote Schlange sieht er aus.
    Die Dachziegel der Sophienkirche glänzen feucht. Noch ein Grund mehr, im Bett zu bleiben. Aber Paul muss aufstehen und
die Wohnung verlassen, bevor seine Mutter aufwacht. Das wird zwar nicht vor 10 Uhr sein, denn sie arbeitet nachts, aber manchmal muss sie schon vorher aufs Klo und macht dann immer einen kurzen Zwischenstopp in der Küche, um auf die Wanduhr zu schauen. Und wehe, es ist nach acht und er noch in der Wohnung. Dann kann sie fuchsteufelswild werden, wenn sie nicht total verkatert ist. Dann genügt es, ihr eine Aspirin zu bringen. Oder gleich ein Bier.
    Inzwischen ist es Paul lieber, wenn seine Mutter getrunken hat. Das Trinken macht sie träge, manchmal auch euphorisch. Früher haben sie dann Klappspaten und Rucksack genommen und Baustellen aufgesucht, wo sie stundenlang in der Erde wühlten und erstaunliche Schätze bargen: Porzellanpüppchen in der Spandauer Vorstadt, Bierhumpen am Potsdamer Platz oder eine kleine Damenpistole auf der Wiese vor dem Neuen Hain. Paul hat eine ganze Kiste voller Fundstücke. Aber er kann sie niemandem zeigen. In der dritten Klasse hat er mal zwei Mitschüler mit nach Hause genommen. Sie sind durch die Räume gestreift und haben »iih« und »ähh« gemacht, und eine Woche später kündigte das Jugendamt sich an, und seine Mutter renovierte mit ein paar Freunden drei Tage lang die Wohnung. Das war die Zeit, als sie Rotwein trank.
    Wenn es ganz schlimm ist mit dem Zittern und sie nicht mehr fähig ist, aus dem Haus zu gehen, holt er ihr beim Vietnamesen um die Ecke Schnaps. Dort bekommt er ihn anstandslos, denn der

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