Walpurgistag
so einen Bundi, der sie dann vielleicht nach Baden-Württemberg oder Bayern verschleppte. Sie wollte in Berlin bleiben. Berlin war ihre Heimat, ob nun West oder Ost, war egal. Ihre Großmutter war in Kreuzberg aufgewachsen, ihre Mutter in Spandau, der Vater in Treptow und sie im Viktoriaviertel in Lichtenberg.
Der Pieck-Klub war bekannt dafür, dass Westler darin verkehrten, weil die Getränke billig waren und viele der anwesenden Ostler, Männer wie Frauen, nichts gegen Sex einzuwenden hatten.
Schon am dritten Abend hatte es geklappt. Als der Klub um Mitternacht schloss, nahm sie den Mann, den sie um halb elf neben der Tanzfläche aufgegabelt hatte, Micha, wie sie beim letzten Tanz erfahren hatte, mit nach Hause. Bis er um 2 Uhr wieder zum Grenzübergang musste, war nicht viel Zeit. Sie hielten sich nicht lange mit dem Vorspiel auf. Offenbar hatte er Übung. Schön war er nicht, aber er roch gut und schaute sie beim Vögeln an. Haben wir damals vögeln gesagt? Als er nach anderthalb Stunden ging, war sie schwanger. Die Pille nahm sie schon seit zwei Monaten nicht mehr, eher aus einer Laune oder einem diffusen Dagegensein heraus, nicht weil sie wirklich schwanger werden wollte. Sie ließ es einfach darauf ankommen.
Als Micha in ihrem Bademantel auf der Außentoilette verschwunden war, kramte sie in seiner Hosentasche nach seinem Personalausweis. Michael Trepte aus der Cuvrystraße 20, das wollte sie sich für alle Fälle merken. Beim Abschied schenkte er ihr noch eine Tafel Sarottischokolade und ein Pfund Kaffee. Irgendwie behagte ihr dieses Geschenk nicht. Es kam ihr wie der schlechte Lohn für einen Gefallen vor. Auf dem Straßenstrich von Westberlin wäre es teurer gewesen. Beim Abschied fragte sie beiläufig: »Sehen wir uns wieder?« – »Vielleicht«, antwortete er, nicht sehr überzeugend.
Sie war verwundert, als er auftauchte, nachdem er über Umwege erfahren hatte, dass er Vater wurde. Es hatte ausgereicht, im Klub zu erzählen, dass sie von einem Micha aus der Cuvrystraße schwanger sei.
Heike Trepte überlässt im Leben eigentlich nur das Notwendigste dem Zufall. Deswegen gefällt ihr die gegenwärtige Situation ganz und gar nicht. Wieso hat sie Klara schon mit zehn Jahren gezeigt, wie man Kondome über Bananen zieht, wenn sie selbst keine benutzt? Übrigens hieß das bumsen damals, nicht vögeln. Ist völlig aus der Mode gekommen, das Wort.
Heike Trepte geht in die Küche, reißt das Kalenderblatt ab und liest: »Wussten Sie, dass ein einziges Vogelpaar während eines Sommers etwa sechstausend Raupen verzehrt? Nur tausend Raupen genügen, um einen Nadelbaum absterben zu lassen. Ein Schwalbenpaar muss täglich für seine Jungen mindestens siebentausend Insekten fangen! Vögel helfen uns, die Bäume zu erhalten. « Und weiter unten: »Nichts ist so schwer, wie einfach zu leben. De Bersancourt.«
»Amen«, sagt Heike Trepte, stellt den Fuß auf das Treteimerpedal und wirft den Zettel weg. An die bürgerlichen Vorlieben ihres Mannes hat sie sich erst gewöhnen müssen. Abreißkalender zum Beispiel. Als könne man damit seine Kindheit festhalten, all jene Sonntage bei der Großmutter, wo man immer die Kalenderblätter einer ganzen Woche abreißen durfte.
Sie war nie sonntags bei ihrer Großmutter, da führte kein Weg hin, obwohl ihre Wohnung nur knapp zwei Kilometer Luftlinie
entfernt war. Ihre Großmutter war ein Paket mit der Bezeichnung »Geschenksendung. Keine Handelsware« in der Größe 40,0 x 30,5 x 17,5 cm, das zu Ostern, zum Geburtstag und zu Weihnachten kam. Sie selbst setzte keinen Fuß in den Osten. Als die Mauer aufging, war sie seit drei Wochen tot.
Die Angaben für Sonnenauf- und Sonnenuntergang sind der einzige Grund, warum Heike Abreißkalender duldet. Im Grunde ist es wie mit den Haustieren, am Ende macht die Mutter den Käfig sauber und stellt frisches Wasser hin. In ihrer Ehe hat es sich eingebürgert, dass sie, neben dem Füttern der Katze, Tag für Tag den Zettel abreißt. Inzwischen bastelt Klara zu jedem Weihnachtsfest die Grundpappe, an der der Kalender befestigt wird. Diesmal ist es eine Collage. Klara hat lauter lädierte Körper aus dem Spiegel ausgeschnitten und aneinandergereiht, eine einziges Gemetzel in Rosarot. Manchmal versteht Heike Trepte ihre Tochter nicht.
Als die auf die Welt kam, fiel die Mauer.
All die Anstrengung war umsonst gewesen. Oder auch nicht.
Sie haben ihre Scheinehe nicht aufgelöst, wie so viele andere, die vor 1989 nur heirateten, damit einer
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