Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Walpurgistag

Walpurgistag

Titel: Walpurgistag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annett Groeschner
Vom Netzwerk:
der Partner den Osten verlassen konnte. Sie haben sich irgendwie zusammengerauft. Mit Bausparvertrag und Lebensversicherung. Und Klara. Und ab und an Sex. Ab und an. Micha riecht manchmal nach einer anderen Frau, aber er lässt sich nichts anmerken. Und sie auch nicht. Im Gegensatz zu Micha duscht sie aber sofort.
    Im Bad hat sich noch keine eindeutige Aussage ergeben. Vielleicht ist es zu früh, diesen Test zu machen? Aber sie ist schon vierzehn Tage drüber.
    Heike Trepte gießt, um Zeit zu schinden, die Blumen auf dem Balkon. Heute kommt der Weihnachtsbaum weg. Er ist an den unteren Zweigen schon braun und nadelt. Wenn es doch immer nur solch nichtige Probleme gäbe.
    Als sie wieder ins Bad kommt, sieht sie zwei rosa Striche. Heike Trepte starrt auf die Kontrolllinie und vergleicht das Ergebnis mit der Gebrauchsanleitung. »Positiv = schwanger«, steht da.
    Positiv ist eindeutig negativ.

    So ’ne Scheiße. Ick fass et nich. Ich bin einundvierzig, ich habe eine zwölfjährige Tochter. Ich bin Vertrauenslehrerin. Ich habe einen Ehemann. Ich führe ein Leben, das man bürgerlich nennt und das ich mir immer gewünscht habe. Ich habe eine Menge zu verlieren. Ich bin schwanger. Ich hatte eine Affäre. Quatsch. Ich habe eine Affäre. Habe. Hatte. Was weiß ich, lange nicht gesehen. Genauer gesagt: vor vier Wochen das letzte Mal, im Hotel am Alex war er abgestiegen. Sie hatte beim Sex, die Arme am Fensterglas abgestützt und den Mann hinter sich, über die halbe Stadt sehen können, und ihre Brüste hatten erst leicht, dann heftig dabei geschaukelt.
    Wozu das alles?
    Fakt ist, wenn sie das Kind und ihre Familie behalten will, muss sie schummeln. Aber wieso denn behalten? Wer sagt denn behalten? Welche Betschwester in ihrem Hirn will das denn? Kinderkacke, Klotz am Bein und durchgeschriene Nächte. Was hatten sie nicht alles durch, den König der Löwen, Barbie und zuletzt Titanic, als Klara sich mit der Heldin identifizierte. Aber nichts war so schlimm gewesen wie das Tamagotchi, das zum Schluss stundenlang, tagelang schrie, weil es nicht gefüttert wurde, bis Heike es kurzerhand in die Mülltonne warf. Und das alles noch mal mit anderen Produkten der Kinderunterhaltungsindustrie ?
    Sie ist froh, dass Klara es allein zur Schule schafft und manchmal den Geschirrspülautomaten ausräumt. Und dass so ein blödes Ding wie das Tamagotchi wieder ausgestorben ist.
    Aber warum soll sie nicht ein anderes Leben beginnen? In einer anderen Stadt? Süddeutschland. Da ist das Wetter angenehmer. Und die Schulen besser ausgestattet. Die Lehrer besser bezahlt. Und hat sie sich nicht eingebildet, in den Mann verliebt zu sein, mit dem sie seit einem halben Jahr schläft? Den Mann, der so schön ist wie seine Oboe, ein teures Instrument, denn er spielt im Orchester der Berliner Philharmonie. Und sieht sie ihn nicht in vielen anderen Männern, die ihr auf der Straße begegnen? Die dunklen Haare, die er über den Scheitel nach hinten streicht, der
winzige Mund. Seine Angst um Lippen und Zunge und Hände. Du kannst mir den Schwanz abbeißen, aber lass meine Lippen heil.
    Sein ganzes Gesicht bekommt sie in der Erinnerung nicht mehr zusammen. Eine Weile haben sie sich SMS geschrieben. Ihr gingen die erotischen Sätze leicht von der Hand. Aber als sie Klara dabei erwischte, wie die neugierig mit ihrem Handy spielte, ist Heike vorsichtiger geworden.
    Seit vierzehn Tagen hat sie keine Nachricht mehr von ihm.
    Sie geht ins Arbeitszimmer und fährt ihren Laptop hoch. In die Suchmaschine gibt sie » Was tun bei Schwangerschaftsabbruch« ein. »Es wurden keine mit Ihrer Suchanfrage übereinstimmenden Dokumente gefunden«, bekommt sie zur Antwort. Sie versucht es mit »Schwangerschaftsabbruch«. 543 000 Treffer werden angezeigt. Sie entscheidet sich für die Website einer Frauenarztpraxis, die ihr mitteilt, dass sie bei einem approbierten Arzt die Schwangerschaft feststellen lassen solle und, wenn sie den Abbruch wünsche, sich in einer staatlich anerkannten Beratungsstelle einen Beratungsschein ausstellen lassen müsse. Nach einer Wartefrist von drei Tagen könne sie einen Abbruch vornehmen lassen. Dreihundert Euro koste das Ganze. Heike Trepte denkt an ihr Sparbuch und im nächsten Moment an die vielen Demonstrationen gegen den § 218 nach der Wende. Und sie muss an die Umta-umta-umta-Geräusche denken, die immer aus dem Labor ihrer Gynäkologin kommen. Da liegen die Schwangeren, verkabelt mit Maschinen, und lassen die Herzen ihrer Kinder brüllen.

Weitere Kostenlose Bücher