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Walpurgistag

Walpurgistag

Titel: Walpurgistag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annett Groeschner
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Das Geräusch nimmt die gesamte Praxis als Geisel, man kann diesem Rhythmus nicht entkommen.
    Und diesmal wird sie dran sein, umta, umta, umta, ich weiß nicht, wie es ausgeht, umta, es ist nicht dein Kind, umta, du bist immer eingeschlafen, umta, du hattest seit Monaten keine Lust – umta, du hast manchmal anders gerochen. Ich hab manchmal anders gerochen. Aber wir haben es uns nicht anmerken lassen. Umta. Umtata, umtata, umtata, mit einem leichten Schlürfen am Ende des A.

    Keine Geräusche von Babyherzen. Basta.
    Heike Trepte löscht den Verlauf im Internetexplorer und schaltet den Computer ab. Sie steckt den Test in ein verschließbares Seitenfach ihrer Umhängetasche.
    Ihr wird schlecht, aber als sie ihr Gesicht über die Klobrille beugt und der strenge Geruch einen Brechreiz auslöst, kommt nur Schleim.
    Ich muss Viola Karstädt wegen heute Nachmittag anrufen, denkt sie. Jetzt, sofort. Und dann die Gynäkologin, um einen Termin für nächsten Dienstag zu vereinbaren.

9.35 Uhr
Viola Karstädt umringt die Stadt und bekommt einen Anruf
    »Was, du möchtest gerne deinen Weihnachtsbaum eingraben? Wie, ich soll darüber nicht lachen? Hast du die Krücke immer noch in der Wohnung? Ist sie schon braun? ... Der wächst bestimmt nicht an ... Und wo? ... Volkspark Friedrichshain? ... Neuer Hain, ja klar, ich weiß ... der Zaun, naja ... Champagner klingt gut ... Um fünf am Polendenkmal ... Nee, glaub nicht, dass Jonas mitkommt. Ich kann auch nicht so lange, hab noch einen anderen Termin ... Ich? Mach gerade ’ne Recherche über alle Straßen, die Ringbahn heißen ... Neukölln. Da gibt’s so Läden wie Pillepalle Second Hand ... Die meisten sind aber geschlossen, nur noch die Kneipe Starkstrom hält die Stellung. Nee. Heute gibt’s da Metal-Tanz in den Mai ... Klar machen wir, gehen wir hin, wenn der Weihnachtsbaum eingegraben ist ... Ja genau, Mucke bis zum Abwinken und Saufen, bis der Doc kommt, so ist’s angekündigt, Doc haben sie allerdings statt mit c mit g geschrieben ... O. k., ich muss jetzt raus. In Tempelhof gibt’s auch ’ne Ringbahnstraße.«
    Viola Karstädt drückt Heike Trepte weg und steckt das Handy ein.
    Die Bahn hält abrupt, die Fahrgäste stürzen kollektiv nach vorne, um gleich darauf wieder in die Sitze zurückzufallen. »Scheiße«, brüllt einer, »kann der das nicht ankündigen?«
    Auf der langen Bank am hinteren Eingang sitzt ein Mann, Typ Kreuzberger Hausbesetzer. Die Dreadlocks haben am Haaransatz einen grauen Schimmer. Neben ihm hockt zusammengesunken ein kleines Mädchen im Vorschulalter. »Wenn wir aussteigen, musst du mich tragen, weil ich nicht mehr laufen kann«, sagt das Mädchen. » Will ich aber nicht.« Der Dreadlockige schaut beim Reden aufs Rollfeld des Tempelhofer Flughafens, auf dem sich nichts bewegt. »Musst du aber, weil ich sonst stehen bleibe.« –
» Was ich nicht will, das mache ich nicht«, sagt der Mann. »Ich auch nicht. Aber du bist mein Vater«, sagt das Kind. »Na und?«, fragt der Mann. Das Mädchen rutscht ans andere Ende der Bank, verschränkt die Arme demonstrativ vor der kleinen Brust und schmollt. Der Vater schweigt, schaut sein Kind nicht an. Es rutscht zurück, die Arme immer noch in derselben Haltung, und befiehlt: »Erzähl eine Geschichte!« Der Vater überlegt kurz und hebt dann im Märchenton an: »O. k., die Geschichte geht so: Jedes Jahr am 30. April kommen viele Polizisten zu Besuch nach Berlin und belagern die Stadt. Sie kennen sich nicht aus und können auch keinen Stadtplan lesen. Sie kommen zu uns nach Kreuzberg und wollen mit uns kämpfen. Sie spritzen uns mit Wasser voll, bis wir nass sind. Und wir werfen Steine zurück. Das ist so etwas wie ein Volksfest.« – »Das soll eine Geschichte sein?«
    An der nächsten Haltestelle steigt Viola Karstädt aus und geht die Treppe zum Tempelhofer Damm hinunter. Sie überlegt, ob es nicht besser wäre, wieder zum Bahnsteig zu gehen, um die nächste Ringbahn zurück zu nehmen. Wieso hat sie diesen blöden Auftrag der Berliner Zeitung angenommen, für die sie manchmal schreibt. Welcher Leser würde sich schon für die Geschichte dreier wahrscheinlich allesamt stinklangweiliger Ringbahnstraßen interessieren? Sie würde nicht viel mehr als hundertfünfzig Euro damit verdienen. Und den Mühsam-Essay darf ich auch nicht vergessen. Da ist die Deadline auch morgen, und es gibt überhaupt kein Geld dafür. Ihr Telefon klingelt. Auf dem Display steht »Schulsekretärin«. Das klingt beunruhigend. Viola

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